Der Irrlaeufer by Andreas Goessling

Der Irrlaeufer by Andreas Goessling

Autor:Andreas Goessling [Goessling, Andreas]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
veröffentlicht: 2014-10-13T22:00:00+00:00


„Du willst was machen?“ rief Georg. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, Papa!“ Beschwörend wollte er sich zu seinem Vater vorbeugen, aber dauernd kam ihm seine Mutter in die Quere, die zwischen ihnen mit qualmenden Zündhölzchen über der Geburtstagstorte hantierte.

„Ihr wißt, daß ich immer im Ernst rede“, erwiderte sein Vater würdevoll. „Die Sache ist ganz einfach. Gegen den Willen deiner Mutter wird dieser Vertrag nicht in Kraft treten, und genausowenig bin ich bereit, die Verzichtsklausel zu streichen. Daraus folgt – falls du deine Mutter nicht bis sagen wir heute abend neunzehn Uhr überzeugt hast, werde ich beide Exemplare des Schenkungsvertrages vor euren Augen zerreißen.“

Er lehnte sich bequem zurück und streifte erst Georg, dann seine Frau mit einem boshaft ironischen Blick. Georgs Mutter fuchtelte immer noch mit den Zündhölzchen über der marmorierten Geburtstagstorte – da sie die Flämmchen andauernd mit ihren zittrigen Fingern wegwedelte, brauchte sie für jede Kerze mindestens eine Minute. Die schlanken, milchweißen Wachsstäbchen steckten sternförmig in der Torte, deren schwarzgraue Oberfläche unter den winzigen Hitzetrichtern schon zu schmelzen anfing.

„Laß mich machen“, sagte Georg. Mühsam schraubte er sich zwischen Tisch und Stuhl nach oben, wobei sich die Stuhlkante in seine Kniekehlen drückte. Er nahm seiner Mutter die Zündhölzer weg, strich eines an und entflammte mit einer wischenden Bewegung die restlichen Kerzen. „So einfach geht das“, bemerkte er.

Dann sanken er und seine Mutter fast gleichzeitig auf ihre Stühle zurück, und seine Mutter fing an, Tortenstücke auf die Teller zu schaufeln.

„Ich würde sagen, mein Vorschlag ist nichts anderes als fair, Johanna“, sagte sein Vater, der es offenbar gar nicht erwarten konnte, daß sie vor seinen Augen über die Schenkung und die ominöse Verzichtsklausel zu streiten anfingen.

Georgs Mutter erwiderte überhaupt nichts. Schweigend, mit angespanntem, aber ungewohnt trotzigem Ausdruck beugte sie sich über ihren Teller, so daß auch Georgs Vater sich irgendwann schulterzuckend abwandte und lautlos zu pfeifen anfing. Es war unglaublich schwül in dem winzigen Raum. Nachdem Georg sich umgezogen und den knittrigen Seidenanzug gegen verblichene Jeans und ein graues T-Shirt vertauscht hatte, glaubte er vor Hitze fast zu zerplatzen.

Da der große Saal im Lauf der Jahre praktisch alle Erdgeschoßzimmer verschlungen hatte, war der Eßraum zuletzt in eine Art Abstellkammer hinter der Küche abgedrängt worden. Die Wände schoben sich so eng um die mattweißen Holzmöbel, daß man nur die Wahl hatte, mit der Stuhllehne gegen die Tapete zu schrammen oder sich den Bauch an der Tischkante zu zerdrücken. In der linken Schmalwand winkelte sich ein winziges Fenster zur Westterrasse, rechts wölbte sich ein offener Mauerbogen, durch den man in die kleine Küche sah, wo ständig irgendwelche Automaten fiepten, surrten und blinkten. Georg fand, es war absurd, daß derart reiche Leute wie seine Eltern sich zum Essen praktisch in eine Dienstmädchenkammer preßten. Die lautlosen Zeiger über dem Mauerbogen schlichen schon gegen vier.

„Okay, fangen wir an“, sagte Georg. „Da Papa auf diesem läppischen Schauspiel zu bestehen scheint ... Also hör zu, Mama. Ich erkläre dir hiermit offen, ehrlich und im vollen Besitz meiner Verstandeskraft, daß ich diese Verzichtsklausel gelesen und begriffen habe und daß ich sie absolut akzeptiere.



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