Der Herr der Unruhe by Ralf Isau

Der Herr der Unruhe by Ralf Isau

Autor:Ralf Isau [Isau, Ralf]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2006-11-18T19:13:12+00:00


Als der Eisenbahnzug endlich anruckte, fühlte sich Nico auf eine zwiespältige Weise befreit. Er und die Mezeis blickten mit gemischten Gefühlen auf die Stadt, die mehr oder weniger lang 258

ihr Zuhause gewesen war. Jetzt rollte eine Verhaftungswelle durch das Land, der sie genauso knapp entgangen waren wie dem Mob vor zwei Tagen. Die gleichgeschaltete Presse hatte bisher wenig über die so genannte »Reichskristallnacht« verlauten lassen.

Dem Vernehmen nach habe sich der Volkszorn am Attentat

eines Juden entzündet, das dem Sekretär der deutschen Botschaft in Paris ein vorzeitiges Ableben beschert hatte. Der jüdische Schüler Grynspan sei am 7. November als Täter festgenommen worden. Nico traute den Nationalsozialisten durchaus zu, das alles nur inszeniert oder zumindest, wenn es denn stimmte, als Vorwand für eine reichsweite Aktion missbraucht zu haben. Ein ehemaliger Kunde, den er am Donnerstagmorgen getroffen hatte, ließ jedenfalls eine dementsprechende Bemerkung fallen. Sein Nachbar, flüsterte er, der sei Führer des örtlichen SS-Sturms und der habe angeblich schon vor Ausbruch des Pogroms davon gewusst. Allein die Eindrücke aus Nicos unmittelbarer Umgebung hatten ihn den Zynismus in der bagatellisierenden Umschreibung

»Kristallnacht« wie bittere Galle schmecken lassen. Das Glitzern zerbrochener Schaufenster war noch harmlos im Vergleich zu den brennenden Synagogen, den entweihten Thorarollen, den geplünderten und zerstörten Geschäften, den misshandelten und vergewaltigten Menschen. Und den Toten. Ja, der »spontane«

Volkszorn hatte auch Menschenleben gekostet. Wie viele, das wagte sich Nico nicht auszumalen.

Als der Zug am Mittag des 13. November 1938 die Grenze nach Italien passierte, wähnten sich die Flüchtlinge endlich in Sicherheit. Johan Mezei öffnete seine braune Aktentasche und zog eine kleine, in hellblaues Papier eingeschlagene Schachtel hervor. Ein goldenes Band entlarvte sie eindeutig als Geschenk.

»Hier, das ist für dich«, sagte der Meister.

Nicos Kopf schaukelte auf seinen Schultern, während der Zug über seinem sprachlosen Staunen wohl an die tausend Meter zu-rücklegte.

»Nun nimm es schon. Es gehört dir«, ermutigte ihn Lea.

Der Junge griff still nach dem Kästchen und öffnete die Ver-259

packung. In der hellgrauen Pappschachtel lag, gebettet auf einem dunkelblauen Filztuch, eine silberne Taschenuhr. »Aber das ist ja …«

»Meine Lebensuhr«, sagte Johan. Das Erstaunen des Jungen

bereitete ihm sichtlich Freude.

»So ein wertvolles Geschenk kann ich nicht annehmen. Au-

ßerdem habe ich dir doch damals gesagt, dass du sie nicht zu fürchten brauchst. Sie ist …«

»Niklas«, unterbrach der Meister ihn mit milder Strenge.

»Lass uns nicht darüber streiten. Mir ist wohler, wenn du die Uhr nimmst. Du hast ihr Herz wieder zum Schlagen gebracht, und solange sie dir gehört, wird sie nicht stehen bleiben, dessen bin ich gewiss. Ich finde, das ist Grund genug, sie zu deiner Lebensuhr zu machen.«

Nico klappte die Taschenuhr auf, bewunderte das schlichte, weiße Metallzifferblatt mit den scharf gezeichneten arabischen Ziffern, die grünlichen Leuchtmarkierungen zur Orientierung in der Nacht, den munter kreisenden Sekundenzeiger, und dann entdeckte er die frische Gravur auf der Innenseite des Deckels.

»Zeit ist Leben und Leben ist Zeit.«

Für Nico, den Liebling nicht allein der leblosen Dinge, von Johan und Lea,

denen du zum Sohn geworden bist.

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