Der Geburtstag. Roman by Martin Gumpert
Autor:Martin Gumpert [Gumpert, Martin]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105606636
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-12-27T16:00:00+00:00
Natürlich muß man manchmal etwas sagen. Das Denken in Worten genügt nicht. Aber fast nie sagt man, was man denkt. Das Denken und Sagen sind wie ein Fußgänger und ein Autofahrer, die sich durch die gleiche Landschaft bewegen. Sie treffen sich flüchtig, sie tun fast das Gleiche, aber sonst ist alles anders, sie sehen anders, sie fühlen anders, sie leben aneinander vorbei. Gäbe es nicht die zwanghafte Übereinkunft, daß Menschen miteinander reden müssen, daß Schweigen etwas Anmaßendes, Unhöfliches oder gar Schuldbeladenes sei, wieviel ehrlicher und einfacher wäre das Leben. Die meisten Menschen reden so wie sie träumen. Vielleicht träumen sie in der Tat und was wir für Wachsein halten, ist nichts als Schlafwandeln. Ihr Gerede bedarf der Deutung, und fast immer ist es eine romantische Bloßstellung von Tagträumen oder ein künstlicher Nebel, der das Denken verhüllen oder hemmen will.
Sie war, er wußte das aus trauriger Erfahrung, von dieser Sprachstörung im höchsten Grade befallen. Es war ein teuflischer und sadistischer Mechanismus, der ihm oft das Spiel verdarb. In einem Augenblick, in dem Schweigen das Leben bedeutete und Reden den Tod, würde sie sagen müssen: »Was für Patienten hast du heute gehabt?« Oder »Laß mich schnell etwas aufschreiben, bevor ich es vergesse.« Es war für sie eine neurotische Verteidigung ihrer Frigidität, sie hielt es, aus Erziehung und Anlage, für unerlaubt und sündhaft, sich aufzugeben, hinzugeben. Und diese Verzögerung der Hingabe war sein großer, unausgesprochener Kummer und das Ziel aller seiner Angriffe. Er wurde zornig und traurig. Er wollte sie schlagen und schütteln. Denn wie war Liebe denkbar ohne Hingabe, ohne diese einzige Methode, sich von sich selbst zu heilen, zu befreien, das Einsamsein für eine ewig lange Sekunde zu beenden.
Dieser Widerstand gegen die Liebe war das einzig Greisenhafte in diesem Lande; denn nur wer jung ist, kann sich hingeben. Es war ein amerikanisches Leiden. – Hunderttausende waren unglücklich und unruhig, nirgends betrank man sich mit so rührender Leidenschaft, nirgends war man so versessen auf bunte Eiscreme, nirgends wurden Activities und Geschäfte und Bewegungen mit so verzweifeltem Eifer betrieben, und nirgends scheute man so sehr davor zurück, zu gestehen: daß man nicht glücklich war, daß man allein war, daß man sich langweilte, sich sehnte, sich ängstigte, kurzum, daß man lieben wollte und nicht genug lieben konnte.
Aber in diesem Falle und an diesem Tage durfte er das nicht dulden. Sie sah nach der Uhr an ihrem Armband. Es war nur ein flüchtiger Blick, eine mechanische Bewegung, hundertmal am Tage wiederholt, aber es war die Störung des Friedens, die er so mit Bangen erwartet hatte, die Wolke, die am klaren Himmel erscheint und unversehens die Sonne überwuchert.
In früheren Jahren hätte ihn eine Art von Schlag getroffen, er hätte geweint, sich empört, an Selbstmord gedacht, und er hätte sich bittere Vorwürfe gemacht wegen seines Versagens: daß eine unwichtige Angewohnheit so viel stärker war als seine Gegenwart. Aber er hatte längst gelernt, daß die Gefühle seines egoistischen Herzens zu unvernünftig stürmisch waren, um verstanden zu werden, und zu machtlos, um zu siegen. Er war ein bescheidener älterer Herr, dankbar für was sich bot, und stets bereit zu verzeihen.
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