Der Fluch der bösen Tat by Peter Scholl-Latour

Der Fluch der bösen Tat by Peter Scholl-Latour

Autor:Peter Scholl-Latour
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2013-12-31T23:00:00+00:00


»Das Glück, Türke zu sein«

In der neuen Hauptstadt Ankara mochte zwar Kemal Pascha darauf pochen, daß es keine Zivilisation »außerhalb der europäischen« gäbe. Er mochte seine Verachtung der islamischen Religiosität so weit treiben, daß er den Propheten Mohammed – ein bislang einzigartiger Frevel – als räuberischen und verlogenen Nomaden bezeichnete. Eine Demokratie westlicher Vorstellung hatte Atatürk jedoch nicht geschaffen, auch wenn zu seinen Lebzeiten der Laizismus auf die Spitze getrieben wurde. Bis zu seinem Tod ließ er nur eine Einheitspartei zu. Als wirkliches Rückgrat seiner brutal erzwungenen Modernisierungen erwies sich die verschworene Gemeinschaft des Offizierskorps. Die mißachteten und ausgegrenzten Hodschas mochten sich darüber ereifern, daß an der Spitze des Staates zwei »notorische Säufer« standen. Gemeint waren Kemal Pascha und sein engster Vertrauter Ismet Inönü, die durch ihren hemmungslosen Alkohol- und Raki-Genuß an Leberzirrhose starben. An der frevelhaften Vergötzung Atatürks, die nunmehr einsetzte, konnten sie nicht ernsthaft rütteln.

Noch im August 1984, als ich mit einem Kamerateam Zugang zur Kadettenanstalt von Bursa erhielt, war – mehr als vierzig Jahre nach dem Tod des Staatsgründers – die Härte des Drills, die eiserne Disziplin, die nationale Exaltation bei der militärischen Ausbildung nicht gelockert worden. Wir filmten den Deutschunterricht. Auch in der Sprache Goethes klang uns ein ehernes Bekenntnis zu den Dogmen des Staats-Kemalismus entgegen. »Wodurch zeichnete sich Atatürk schon in seiner Jugend aus?« lautete die Frage des Prüfers. »Der junge Mustafa zeichnete sich schon in seinen ersten Unterrichtsjahren durch eine so hohe Intelligenz, durch Selbstbeherrschung und Lerneifer aus, daß ihm seine Professoren den Titel ›Kemal – der Vollkommene‹ verliehen. Von nun an wurde er ›Mustafa Kemal‹ genannt«, klang die prompte Antwort des Offiziersschülers in fehlerfreiem Deutsch.

»Wie definiert sich der Laizismus der Türkischen Republik?« Auch hier kam das Gelöbnis wie auf Knopfdruck von einem anderen Kandidaten, der stramme Haltung annahm: »Atatürk hat eine strikte Trennung zwischen Staat und Religion verordnet. Es soll verhindert werden, daß zwielichtige Elemente, Volksbetrüger und Obskurantisten sich der Religion bedienen, um das Volk auszubeuten und es in die Irre zu führen. Die Reaktionäre verlangen, daß die Koranschulen wieder geöffnet werden, aber Atatürk lehnte das grundsätzlich ab.«

Die Armee war weiterhin die Schule der Nation, und ein junger Mann galt nichts in seinem Dorf, war kaum heiratsfähig, ehe er nicht seinen Wehrdienst abgeleistet hatte. Bei den städtischen Jungakademikern mochte das anders aussehen. Viele von ihnen – zumal wenn sie lange im Ausland residierten – konnten sich für eine Summe, die ungefähr dem Gegenwert von fünftausend Euro entsprach, von der Einberufung freikaufen.

Im aktiven Offizierskorps jedenfalls sollte todesmutiger Kampfgeist, bedingungsloser Gehorsam gezüchtet werden. Die Armeeführung bildete mehr denn je eine extrem abgesonderte Kaste mit großen Privilegien und strengen Pflichten. Dennoch bestand ein grundsätzlicher Unterschied zu den osmanischen »Yeniceri«, den Elitekriegern des Sultans. Die Janitscharen waren verschleppte Christenkinder, die als Prätorianergarde des erobernden Islam erzogen und ihrer ursprünglichen Persönlichkeit beraubt waren. Sie besaßen keine familiären Bindungen, keinen organischen Bezug zum türkischen Milieu. Die Offiziere und Kadetten der kemalistischen Streitkräfte hingegen, auch wenn sie in klösterlicher Zucht von ihrer Umwelt abgeschirmt wurden, entstammten meist bescheidenen Bevölkerungsschichten, waren



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