Der Engel Schwieg. by Heinrich Böll

Der Engel Schwieg. by Heinrich Böll

Autor:Heinrich Böll [Böll, Heinrich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Germany
ISBN: 9783462029628
Google: 0k8kPAAACAAJ
Amazon: 3462029622
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch
veröffentlicht: 2000-10-01T22:00:00+00:00


Sie hatte das Gefühl, sich im Kreise zu drehen, erst langsam, wobei ihre Füße den festen Punkt bildeten, inmitten des Kreises, den ihr Körper nun immer schneller beschrieb. Es war wie im Zirkus ungefähr, wo die schlanke Schöne von einem kräftigen Gladiator an den Füßen gepackt und rundgeschleudert, wird.

Zuerst erkannte sie noch die grünliche Wand mit dem roten Tonfleck der Statue und auf der anderen Seite das grüne Licht im Fenster; grün-weiß schob es sich abwechselnd vor ihre Au- gen, aber dann verwischten sich die Grenzen schnell, die Farben vermischten sich, ein sehr helles Grün-weiß rotierte vor ihr oder sie vor ihm, sie wußte es nicht, bis in rasender Schnelligkeit die Farben zusammenflössen und sie sich horizontal zum Erdboden in einem fast farblosen Geflimmer drehte. Zugleich kamen neue Schmerzen hinzu, Ohren–, Leib–, Halsschmerzen: es schien, als ob der Hunger, dieses windige Bohren in ihrem Bauch, magneti- sche Gewalt gehabt hätte, immer neue Schmerzen auszulösen, sie fühlte sich ganz wund, roh und bloß und erkannte mit Schrecken, daß sie das Bewußtsein nicht verlieren würde.

Erst als die Bewegung sich verlangsamte, merkte sie, daß sie auf der Stelle lag, nur ihr Kopf, ihr Kopf schien sich zu drehen, sie hatte den Eindruck, als läge er manchmal seitlich zu ihrem

Körper, ohne Verbindung zu ihr, manchmal zu ihren Füßen, und

für Augenblicke lag er da, wo er hingehörte, oben an den Hals angesetzt. Ihr Kopf schien um ihren Körper herumzurollen, aber auch das konnte nicht wahr sein, sie fühlte mit den Händen nach ihrem Kinn und spürte es, die knochige Erhöhung; auch wenn

ihr Kopf zu ihren Füßen zu liegen schien, spürte sie ihr Kinn.

Vielleicht waren es nur die Augen, sie wußte es nicht, einzig gewiß war der Schmerz, der nun immer mehr zusammen- schmolz, ohne an Substanz zu verlieren, so daß sie ihn nicht mehr zu trennen vermocht hätte nach Hals–, Ohren–, Leib- oder Kopfschmerz; auch die Übelkeit war wirklich fast chemisch wirklich, eine widerlich scharfe Säure, die ihr im Halse hoch- stieg wie in einem Barometer und immer wieder zurückfiel, um langsam zu steigen.

Es nützte auch nichts, die Augen zu schließen; wenn sie die Augen schloß, drehte sich nicht nur der Kopf, dann spürte sie, wie Brust und Beine sich dem verrückten Kreisen der Augen anschlössen. Aber wenn sie die Augen offen hielt, konnte sie mit dem Bewußtsein, das sie nicht verließ, erkennen, daß der Wand- sektor vor ihren Augen immer der gleiche blieb: ein Stück grün- lich getünchter Mauer mit einer schokoladenfarbenen Borde oben und ganz dunkelbraun in das Helle hineingemalt ein Spruch, den sie nicht entziffern konnte. Die Buchstaben schrumpften manchmal zusammen wie jene mikroskopischen Schriften auf den Tafeln der Augenärzte, und schwollen dann an, widerliche dunkelgrüne Würste, die schnell in die Breite gingen, bis sie nicht mehr ihrer Form und ihrem Sinn nach zu fassen waren, sie platzten vor Dicke, entzogen sich der Lesbarkeit und schrumpften im nächsten Augenblick ein, winzig wie Fliegen- dreck, aber sie blieben. Immer gleich blieb dieser Sektor: das helle Grün der Wand, die schokoladenfarbene Borde und die



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