Der Dieb by Georg Heym

Der Dieb by Georg Heym

Autor:Georg Heym [Heym, Georg]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erzählungen
ISBN: 3928606182
Herausgeber: Martus
veröffentlicht: 1994-12-31T23:00:00+00:00


Ein Nachmittag

Beitrag zur Geschichte eines kleinen Jungen

Die Straße kam ihm vor wie ein langer Strich, die Leute, die an ihm vorübergingen, schienen ihm wie lauter aufgeblasene weiße Puppen. Was wußten sie auch von seiner Seligkeit. Er hatte sie gefragt: »Darf ich Sie küssen?«, der kleine Junge, und sie hatte ihm ihren Mund hingehalten und er hatte sie geküßt. Und dieser Kuß brannte ihm tief in das Herz hinein, wie eine große reine Flamme, die ihn erlöste, die ihn glücklich machte, die ihn selig machte. Götter, er hätte tanzen mögen vor Seligkeit. Und der Himmel lief über ihn dahin wie eine große, blaue Straße, das Licht reiste nach Westen wie ein feuriger Wagen, und alle die glühenden Häuser schienen sein glühendes Feuer widerzustrahlen.

Er hatte das Gefühl eines starken brausenden Lebens, als hätte er noch nie so gelebt, als schwämme er wie ein Vogel hoch in der Luft, versunken in ewigem Äther, grenzenlos frei, grenzenlos glücklich, grenzenlos einsam.

Und das unsichtbare Diadem der Glückseligkeit lag auf seiner eckigen Kinderstirn und verschonte sie, wie eine nächtliche Landschaft unter dem weiten Aufbrechen eines Blitzes.

»Götter, ich werde geliebt, ich werde geliebt, wie man mich nur lieben kann.« Er ging schneller, er kam ins Laufen, als wäre die gewöhnliche, gemessene Bewegung zu langsam für den Sturm, der in seinem Herzen brauste. Und so rannte er die Straße herab zum Strande und setzte sich an das Meer.

»O Meer, Meer!« und er erzählte dem Meer sein Erlebnis, in einem kurzen Jauchzen, in einem zitternden Flüstern, in dem Taumel einer stummen Sprache. Und das Meer verstand ihn und hörte ihm zu, das Meer, auf dessen blauer dröhnender Weite seit so vielen Jahrtausenden der Orkan der Freude und das Lallen der Qualen widerhallte, wie ein ewiger Wirbelsturm über einer ewig unberührten Tiefe.

Er behütete ängstlich seine Einsamkeit. Wenn Menschen kamen, sprang er auf, lief er davon und kroch in die Dünen. Waren sie vorbei, so lief er wieder hervor ans Meer, dessen gewaltige Weite der einzige Becher war, in den er die Flut seines unendlichen Übermaßes fortgeben konnte.

Allmählich wurde der Strand belebter. Allenthalben blinkten weiße Kleider zwischen den Strandkörben vor, alte Damen kamen mit Büchern unter dem Arm. Helle Sonnenschirme wippten auf den schmalen Holzgängen, und die Kinder füllten wieder scharenweise die Sandburgen. Ruderboote fuhren aus, an den großen Segelkähnen wurden die Segel gehißt. Ein Photograph watete durch den Sand mit dem Kasten am Riemen über der Schulter.

Er sah nach der Uhr. Noch eine halbe Stunde, noch neunundzwanzig Minuten, dann wird er sie treffen. Er wird sie an der Hand nehmen, sie werden zusammen in den Wald gehen, da wo es ganz still ist. Und sie werden sich zusammen hinsetzen, Hand in Hand, verborgen im grünen Dickicht.

Aber was soll er zu ihr reden, damit sie ihn nicht langweilig findet. Denn sie ist schon wie eine kleine Dame, man muß sie unterhalten, man muß Witze machen.

Was soll er bloß zu ihr reden.

Ach, er wird überhaupt nichts sprechen, sie wird ihn auch so verstehen. Sie werden sich in die Augen sehen, die werden sich genug sagen.



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