Der Atem der Angst by Alexa Hennig von Lange

Der Atem der Angst by Alexa Hennig von Lange

Autor:Alexa Hennig von Lange [Lange, Alexa Hennig von]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-06-04T04:00:00+00:00


40. BELLA

Bella hatte sich den Wecker auf sieben Uhr dreißig gestellt. Als er klingelte, schlug sie sofort die Augen auf. Zum ersten Mal seit Langem hatte sie vor dem Zubettgehen keinen Schnaps getrunken. In weicher Müdigkeit war sie gegen ein Uhr nachts ins Bett gefallen, hatte sich ihre ausgebeulte Jogginghose von den Beinen gestrampelt, sich das Sweatshirt im Liegen über den Kopf gezogen und in Unterwäsche unter der Decke wohlig zusammengerollt. Keine Minute später war sie tief und fest eingeschlafen, so fest wie schon seit sieben Jahren nicht mehr. In sich hatte sie einen unglaublichen Frieden empfunden, der sie nun auch lächelnd aufwachen ließ. Der Schmerz war weg. Heute Morgen saß er nicht schon auf der Bettkante und begrüßte sie mit einem höhnischen Grinsen.

Sie zog die am Fußende liegende Jogginghose an, dann gleich wieder aus. Nein, zur Feier des Tages wollte sie sich etwas Hübsches anziehen. In Unterwäsche ging sie hinüber ins Bad, duschte sich, wusch sich die Haare, schminkte sich und zog sich im Schlafzimmer eine frische Jeans an, die sie das letzte Mal vor sieben Jahren gewaschen hatte, eine Bluse und eine Strickjacke darüber.

Um acht Uhr war sie mit Frau Beringer verabredet, um ihr wie jeden Freitagmorgen die Haare zu machen. In der Küche deckte sie den Frühstückstisch für sich und Louis, der jeden Augenblick die Treppe herunterkommen musste. Er war spät dran, die Schule begann um Viertel nach acht.

Nachdem Bella den Toast und die Marmelade auf den Tisch gestellt hatte, ging sie raus in den Flur. Ihre Stimme klang hell, beinahe jugendlich. »Lou?«

Als keine Antwort kam, ging sie nach oben, öffnete vorsichtig seine Zimmertür und steckte den Kopf ins Zimmer. »Lou, mein Schatz?«

Sein Bett war leer. Bella versuchte sich zu erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Gestern Abend. Er hatte ihr einen Kuss auf den Hinterkopf gegeben. Dann war er verschwunden. Hatte er gesagt, wohin er wollte?

Bella lief die Treppe wieder runter, nahm ihr Handy und rief ihren Sohn an. Aber da ging sofort die Mailbox ran. Wo war er? Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Hatte er sich aufgemacht, Michelle zu suchen? Hatte er sie gefunden? War er jetzt bei ihr? Würde er je wieder zurückkehren? Hätte sie ihn überhaupt gehen lassen dürfen? Lag es nicht in ihrer Verantwortung als Mutter, ihn vor allem Unglück dieser Welt zu beschützen? Sollte sie Sarah und Jens anrufen, ob er Michelle gefunden hatte? Nein. Sie würde mit dem Sorgenmachen bis zum Mittagessen warten. Diesen plötzlichen, inneren Frieden wollte sie nicht wieder verlieren. Ihr Sohn würde früher oder später schon wieder auftauchen. Er war unzerstörbar. Kräftig. Mutig. Und entschlossen. So wie es ihr Mann gewesen war. Nur im Gegensatz zu ihm würde Louis nie etwas passieren. Er war ein Glückskind. Sie lächelte.

Im Wohnzimmer schob sie die gerahmten Bilder ihrer beiden Kinder auf der Kommode zusammen, sodass sie Isabel und Louis gut im Blick hatte. Andächtig betrachtete sie die Fotografien. »Meine Süßen.« Dann schob sie noch ein Foto dazu. Das ihres verstorbenen Mannes. Und zum Schluss ein Bild von sich.



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