Der Alte, der Liebesromane las by Luis Sepúlveda

Der Alte, der Liebesromane las by Luis Sepúlveda

Autor:Luis Sepúlveda [Sepúlveda, Luis]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Unverkäufliches eBook für den Frauensteiner Kreis 11-2012
veröffentlicht: 2012-11-22T05:00:00+00:00


SECHS

Nachdem der Alte die wohlschmeckenden Krebse gegessen hatte, reinigte er sorgfältig sein Gebiß und wickelte es in das Taschentuch. Dann räumte er den Tisch ab, warf die Essensreste aus dem Fenster, öffnete eine Flasche Frontera und entschied sich für einen der beiden Romane.

Der Regen umgab ihn von allen Seiten, und der Tag bot eine unnachahmliche Gemütlichkeit.

Der Roman begann gut.

»Paul küßte sie mit brennender Leidenschaft, während der Gondoliere, Komplize der Abenteuer seines Freundes, in eine andere Richtung zu blicken vorgab und die mit weichen Kissen ausgelegte Gondel leise durch die venezianischen Kanäle glitt.«

Er las den Absatz mehrmals laut.

Was zum Teufel waren wohl Gondeln?

Sie glitten durch die Kanäle. Es mußte sich um Boote oder Kanus handeln. Und was Paul betraf, so war klar, daß es sich nicht um einen anständigen Kerl handelte, da er das Mädchen in Gegenwart eines Freundes, der auch noch sein Komplize war, »mit brennender Leidenschaft« küßte.

Der Anfang gefiel ihm.

Es schien ihm sehr passend, daß der Autor die Bösen von Anfang an klar definierte. Auf diese Weise kam es nicht zu Verwirrungen und unverdienten Sympathien.

Und was das Küssen anging, wie hieß es noch? »Mit brennender Leidenschaft«. Wie zum Teufel machte man das wohl?

Er erinnerte sich daran, Dolores Encarnación del Santísimo Sacramento Estupiñán Otavalo nur ein paarmal geküßt zu haben. Womöglich hatte er es, wenngleich unwissentlich, bei einer dieser spärlichen Gelegenheiten so gemacht, mit brennender Leidenschaft, wie der Paul im Roman. Auf jeden Fall waren es nur wenige Küsse gewesen, weil die Frau entweder mit Lachanfällen reagierte oder darauf hinwies, daß es Sünde sein könnte.

Mit brennender Leidenschaft küssen. Küssen. Jetzt erst entdeckte er, daß er es nur ein paarmal getan hatte und nur mit seiner Frau, denn bei den Shuara war das Küssen ein unbekannter Brauch.

Männer und Frauen streichelten einander am ganzen Körper, wobei es ihnen gleichgültig war, ob andere Personen dabei waren. Im Augenblick der Liebe küßten sie auch nicht. Die Frauen setzten sich lieber auf den Mann, mit der Begründung, daß sie in dieser Stellung die Liebe stärker genossen und daß die Anents, die den Akt begleiteten, auf diese Weise viel gefühlvoller waren.

Nein. Die Shuara küßten nicht.

Er erinnerte sich auch daran, einmal einen Goldsucher gesehen zu haben, der sich auf eine Jíbara warf, eine arme Frau, die zwischen den Siedlern und den Abenteurern umherstrich und um einen Schluck Schnaps bettelte. Wer Lust hatte, drängte sie in eine Ecke und besaß sie. Die arme Frau war vom Alkohol abgestumpft und merkte nicht, was man mit ihr machte. Dieses Mal bestieg der Abenteurer sie am Strand und suchte ihren Mund mit seinem.

Die Frau reagierte wie ein Tier. Sie warf den Mann ab, schleuderte ihm eine Handvoll Sand in die Augen und begann dann, sich mit unverhohlenem Ekel zu übergeben.

Wenn das das Küssen mit brennender Leidenschaft war, dann war der Paul aus dem Roman nichts weiter als ein Schwein.

Als es Zeit für den Mittagsschlaf war, hatte er an die vier Seiten gelesen und durchdacht, und er ärgerte sich über seine Unfähigkeit, sich Venedig so vorzustellen wie die anderen Städte, die in den Romanen beschrieben wurden.



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