Das wilde Kind by T.C. Boyle
Autor:T.C. Boyle [Boyle, T.C.]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
ISBN: 9783446235250
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2009-12-08T23:00:00+00:00
6
Etwa zu dieser Zeit erhielt Victor – oder vielmehr Itard als sein Vertreter – eine Einladung zum Salon von Madame de Récamier. Dies war eine große Chance, nicht nur für Victor, der hier die Fürsprache der mächtigsten und einflussreichsten Menschen Frankreichs erlangen konnte, sondern auch für Itard selbst, der wider besseres Wissen unrealistische Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Aufstieg hegte und sich wie jeder Mensch nach Anerkennung sehnte. Madame de Récamier war damals vierundzwanzig Jahre alt, berühmt für ihre Schönheit und ihren Geist, Ehefrau eines reichen Bankiers, der dreimal so alt war wie sie, und Herrin über ein Schloss in Clichy-la-Garenne, vor den Toren der Stadt; jeder, der irgend etwas darstellte, fand sich bei ihr ein, um ihr seine Reverenz zu erweisen und gesehen zu werden. Itard schaffte eine neue Jacke an und ließ Madame Guérin einen Anzug sowie ein Hemd mit hohem Kragen, eine Weste und ein Jabot für Victor nähen, so dass er wie die Miniaturausgabe eines Herrn der besseren Gesellschaft aussah. Eine Woche vor dem Besuch entwarf Itard diverse Spiele und Strategien, um Victor beizubringen, wie er sich vor einer Dame zu verbeugen hatte – mit wechselndem Erfolg.
An dem bewussten Abend nahmen sie eine Droschke. Victor hatte seine Angst vor Pferden inzwischen abgelegt, streckte den Kopf aus dem Fenster, schrie auf dem ganzen Weg vor Freude und schreckte Passanten, Gendarmen und Hunde gleichermaßen auf. Durch kalten Regen fuhren sie nach Clichy-la-Garenne. Anfangs schien alles gutzugehen, die vornehme Gesellschaft machte Platz für den Doktor und seinen Zögling, den einstmaligen Wilden, der sich in Kleidung und Haltung von keinem anderen Dreizehnjährigen unterschied, auch wenn Victor sich nicht vor irgend jemandem, geschweige denn der Gastgeberin, verbeugte, von einer Ecke des Saals zur anderen trottete und sein Gesicht mit Speisen verschmierte, die nach seinem Geschmack waren: winzige, auf knusprige Brotscheiben gehäufte Fischeier, gefüllte, panierte und fritierte Pilze, kleine Singvögel, die hintereinander auf Spieße gesteckt waren.
Madame de Récamier gab Victor den Ehrenplatz an ihrer Seite und plauderte ein wenig mit Itard, in der Hoffnung, er werde Victor wie ein Zirkusdompteur überreden, zur Unterhaltung ihrer Gäste einige Kunststücke vorzuführen. Doch Victor führte keine Kunststücke vor. Victor beherrschte keine Kunststücke. Victor war stumm, nicht imstande – oder nicht willens –, seinen eigenen Namen zu sagen, und obendrein nicht im mindesten empfänglich für Madames legendäre Schönheit und ihre vielgepriesenen Augen. Nach einer Weile wandte sie sich dem Gast an ihrer anderen Seite zu, und dann unterhielt sie den ganzen Tisch mit einer detaillierten Geschichte über den Maler, der sie kürzlich in Öl porträtiert hatte: wie er sie, in einer bestimmten Pose erstarrt, hatte Modell sitzen lassen und nicht einmal erlaubt hatte, dass eine der Zofen ihr vorlas, weil er fürchtete, das könne ihrer Konzentration abträglich sein. Die Langeweile, die sie hatte ertragen müssen. Die Qual. Was für ein Unmensch dieser Maler war. Und auf eine Geste von ihr sahen alle auf, und da war es, wie ein Wunder, an der Wand hinter ihnen: das Porträt der unvergleichlichen Madame de Récamier – liegend, die Füße aufreizend nackt, auf dem Gesicht ein würdevoller und doch verführerischer Ausdruck.
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