Das volle Leben: Frauen über achtzig erzählen (German Edition) by Susanna Schwager
Autor:Susanna Schwager [Schwager, Susanna]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wörterseh Verlag
veröffentlicht: 2015-02-22T16:00:00+00:00
Monica Suter
25. September 1925
Es riecht nach gutem Kaffee und Apfelkuchen, wenn man hereinkommt in die kleine Wohnung. Helle Möbel aus Holz, handgeknüpfte Teppiche, Bücher und Fotoalben. Schlicht und fein und frisch ist alles. Ein Kreuz im Zentrum, fast übersieht man es. Darunter ein bunter Tulpenstrauss. Hinter dem Fenster lärmen Schulkinder, und der Stadtbach rauscht vorbei.
Ich bin kein Kindermädchen, da wehre ich mich dagegen. Ich lernte einen Beruf, hatte eine richtige Ausbildung, bei den Liebfrauenschwestern. Das sind keine Nonnen, das sind fromme ledige Frauen, die sich dem Dienst am Menschen widmen. Als Lebensaufgabe. Das waren immer sehr intelligente Frauen, die viel können, aber nicht heiraten wollen, sondern lieber arbeiten. Ihre Schulen gibt es schon lange. Ein Kindermädchen ist einfach eine junge Frau, die gerne Kinder hat. Aber ohne Ausbildung. Ich lernte das von Grund auf, Kinderschwester, in der Nurse-Schule vom Liebfrauenhof. Ernährung, Hygiene, Erziehung, Psychologie, das alles gehörte dazu.
Dass wir eine Lehre machen durften, haben wir vor allem der Mutter zu verdanken, sie setzte das durch. Der Vater fand eher: »Schaffen gehen und etwas verdienen.« Er ging selber nur sechs Jahre in die Schule. Wenn man eine Lehre machte, verdiente man viel länger nichts und musste erst noch dafür bezahlen. Die Schule im Liebfrauenhof kostete hundertsechsundfünfzig Franken im Monat. Das war sehr viel Geld. Später zahlte ich ihnen die Hälfte zurück. Die Eltern sparten sich das vom Mund ab, aber das wusste ich nicht. Sie redeten mit mir nie über Geld, obwohl wir sehr wenig hatten. Ich war ein Arbeiterkind. In der Lehre arbeiteten und putzten wir, versorgten die Heimkinder, meistens Waisenkinder. Und am Nachmittag konnten wir in die Schule. Kinderschwester war mein Traumberuf.
Um einen solchen Beruf überhaupt lernen zu können, hatte ich mich ein wenig durchbeissen müssen. Das hiess es öfter zu Hause, man muss sich ein wenig durchbeissen, man läuft nicht einfach davon. Ich ging acht Jahre in die Schule, zwei davon in die Sekundarschule. Neun Jahre gestattete man mir nicht, obwohl ich gerne länger gegangen wäre und auch die Noten gehabt hätte. Aber das wäre die Kantonsschule gewesen, die war der Mutter zu wenig katholisch. Ich schickte mich drein, weil ich sowieso überzeugt war, dass nur Reiche zu den Besten gehören können. Ich war als Kind überzeugt, nur Mädchen mit schönen hellen Schürzchen und Mäschchen im Haar könnten ins Gymnasium gehen. Ich war sicher kein Drecksüchel, aber eben nicht herausgeputzt, hatte keine Mäschchen und ab und zu dreckige Knie, weil wir kein Badezimmer hatten und nur am Samstag im Züberli badeten. An den Knien sah man den Standesunterschied. Als ich einmal bei einer reichen Kollegin eingeladen war, orderte mich die Grandmaman zuerst ins Badezimmer, zum Kniewaschen, bevor ich ins Zimmer durfte. Ich war ohnehin sehr schüchtern, da bleibt das schon haften.
Als ich älter wurde und der Mutter ab und zu ein Widerwort gab, fand sie, ich sei viel zu frech. Sie werde mir nicht mehr Meister und ertrage mich nicht mehr zu Hause. Sie fürchtete, ich schiesse ins Kraut. Obwohl ich ganz sicher kein freches Kind war, aber vielleicht war ich etwas geradeheraus.
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