Das verfallene Haus des Islam by Koopmans Ruud
Autor:Koopmans, Ruud
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Gesellschaft
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2019-12-11T00:00:00+00:00
5.
Die wirtschaftliche Stagnation der islamischen Welt
Religiöse Ursachen für den wirtschaftlichen Niedergang
Wirtschaftshistoriker haben gezeigt, dass die islamische Welt allmählich immer mehr hinter Europa zurückgeblieben ist, weil die starren und unveränderlichen religiösen Regeln, auf denen das Gesellschaftssystem basiert, immer weniger eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen einer sich verändernden Welt boten. Der türkisch-amerikanische Ãkonom Timur Kuran hat in detaillierten historischen Untersuchungen gezeigt, wie das islamische Erbrecht die wirtschaftliche Entwicklung bremste.[1] Der Koran schreibt klare Regeln für die Verteilung von Erbschaften vor. Eine zentrale Regel besagt, dass jedes männliche Familienmitglied mit dem gleichen Verwandtschaftsgrad Anspruch auf einen gleichen Erbteil hat; weibliche Familienmitglieder mit diesem Verwandtschaftsgrad erben die Hälfte davon. Die Rechtsquellen des Korans und der Hadithe werden im Einzelnen von den Rechtsschulen unterschiedlich gedeutet, aber die Grundregeln sind immer die gleichen. Auch das christliche Alte Testament bzw. die jüdische Thora enthält erbrechtliche Bestimmungen, die aber nie in gleicher Weise verbindlich wurden. Daneben spielten regionale Rechtstraditionen eine Rolle. So kam es in der christlichen Welt zu groÃen regionalen Unterschieden, wobei meist das sogenannte Primogeniturprinzip dominierte, bei dem der älteste Sohn den Löwenanteil des Erbes bekommt. Aus moralischem Gesichtspunkt scheint mehr für die differenzierte Verteilung, die der Koran vorschreibt, zu sprechen, als für die sehr ungleiche Praxis in groÃen Teilen der christlichen Welt. Aber auf die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaft wirkte sich das islamische Erbrecht sehr ungünstig aus, weil das von einem Unternehmer zu seinen Lebzeiten erwirtschaftete Kapital nach seinem Tod über viele Erben verstreut wurde.[2] Die Polygamie verstärkte diesen Effekt, denn vor allem erfolgreiche Geschäftsleute konnten es sich leisten, mehrere Frauen zu heiraten, was bedeutete, dass ihr Erbe unter noch mehr Nachkommen geteilt werden musste.[3] Unternehmen in der islamischen Welt blieben daher klein, während in der christlichen Welt Kapitalkonzentrationen von Generation zu Generation weitergegeben und akkumuliert werden konnten. Das ermöglichte gröÃere Investitionen, von denen zunächst der Ãberseehandel und später die Industrialisierung profitierte.
Hinzu kommt, dass das islamische Recht nur natürliche Personen und keine öffentlich-rechtlichen Institutionen (wie Kommunen) oder privatrechtliche Organisationen (wie Unternehmen oder Verbände) als Rechtssubjekte anerkennt. Auf diese Weise konnten hier keine Unternehmen entstehen, die das Kapital mehrerer Geldgeber konzentrierten und über den Tod der ursprünglichen Eigentümer hinaus Bestand hatten. Zwar arbeiteten auch in der islamischen Welt Unternehmer zusammen â zum Beispiel Kapitalgeber und Händler â, aber da beim Tod eines von ihnen das investierte Kapital durch das islamische Erbrecht aufgeteilt worden wäre, war diese Zusammenarbeit immer zeitlich begrenzt â zum Beispiel für die Dauer einer Handelsreise. Partnerschaften zwischen vielen Parteien, die sich nicht einmal persönlich kannten, waren undenkbar. Die wirtschaftliche Revolution, die die Einführung von Aktien und börsennotierten Unternehmen in der Republik der Vereinigten Niederlande und in England im siebzehnten Jahrhundert und danach im übrigen Europa mit sich brachte, ging daher an der islamischen Welt vorbei.
Um die fragmentierende Wirkung des Erbrechts zu umgehen und angesammeltes Kapital vor willkürlicher Besteuerung zu schützen, entstand ab dem achten Jahrhundert in der islamischen Welt der sogenannte Waqf.[4] Es handelt sich dabei um eine fromme Stiftung mit einem vom Koran legitimierten gemeinnützigen Zweck, etwa Religionsunterricht in Madrasas, Infrastruktureinrichtungen wie Brunnen oder Mühlen und verschiedene Formen der Armenfürsorge.
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