Das unvollkommene Leben oder wie das Glück zu Samuel fand by Francesc Miralles

Das unvollkommene Leben oder wie das Glück zu Samuel fand by Francesc Miralles

Autor:Francesc Miralles [Miralles, Francesc]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein-Buchverlage, Berlin
veröffentlicht: 2015-08-07T16:00:00+00:00


Nichts existiert schon immer und für immer

Diese merkwürdige Reaktion der zwei Befragten mochte daran liegen, dass Japaner einem Ausländer nur mit größter Vorsicht den Weg erklärten, dachte ich mir. Kannten sie die genannte Adresse nicht, gingen sie lieber nicht das Risiko ein, den Fremden in die Irre zu schicken. Das »Atelier«, das ich suchte, lag vielleicht in einer kaum bekannten Gasse Kyotos oder sogar irgendwo am Stadtrand, und in ihrer japanischen Korrektheit hatten die Befragten sich lieber verdrückt, als einem Fremden einen schlechten Dienst zu erwiesen.

Das war die plausibelste Erklärung, die mir einfiel. Aber als ich Pontocho verließ und ein Taxi anhielt, erreichte die ganze Sache eine dritte Stufe des Absonderlichen.

Ich zeigte dem Chauffeur die Adresse, der streckte den Kopf aus dem Fenster, nahm die Karte entgegen und setzte sich eine Brille auf, um das Kleingedruckte zu lesen. Zwei Sekunden später hielt ich die Postkarte wieder in der Hand, und der Taxifahrer gab mir gestikulierend zu verstehen, dass er sich weigere, mich mitzunehmen. Noch bevor ich ihn fragen konnte, warum, gab er Gas und ließ mich noch verblüffter als zuvor zurück.

»Die Adresse ist also nicht unbekannt«, dachte ich, während ich mit den Händen in der Tasche zum Ryokan zurückwanderte, »sondern wahrscheinlich ein Ort, den alle kennen und von dem alle wissen, was dort getrieben wird. Bestimmt irgendetwas Schlimmes, wenn die Adresse sogar einen Taxifahrer und einen Typen, der die Sex Pistols hört, zusammenzucken lässt.«

Benommen vor Müdigkeit lief ich weiter und stellte dabei alle möglichen Spekulationen über dieses verbotene Ziel an. War es ein verrufenes Bordell? Ein Onsen, in dem sich berüchtigte Yakuza-Killer trafen? Ein Atommülllager von fragwürdiger Sicherheit?

Das waren lauter extreme, ja absurde Möglichkeiten, die noch weniger als Erklärung dafür taugten, warum man mir diese Postkarten geschickt hatte.

Zu allem Überfluss sah ich, kurz bevor ich durch die Tür des Ryokan trat, eine schwarze Katze über die Straße laufen. Rasch verscheuchte ich den Gedanken, ich sei vom Pech verfolgt, im Ohr den berühmten Satz von Groucho Marx:

»Wenn eine schwarze Katze deinen Weg kreuzt, heißt das nur, dass sie irgendwohin will.« Wie ein Mantra sagte ich ihn mir mehrmals auf.

Als ich an der Rezeption vorbeikam, juckte es mir in den Fingern, der kleinen Frau die Adresse zu zeigen, aber ich hielt mich zurück. Falls nämlich dieses »Atelier« ein verruchter Ort war, würde sie womöglich die Polizei alarmieren, und ich hätte Schwierigkeiten, zu erklären, wie ich in den Besitz der Postkarten gekommen war.

Nein, es war definitiv besser, sie nicht zu fragen. An diesem ersten Mittag in Kyoto wollte ich nur noch schlafen.

In Windeseile zog ich mich aus und ließ mich auf den Futon fallen, der mir schon nicht mehr ganz so hart erschien. Um die schlechte Stimmung loszuwerden, in die die verdammten Karten mich versetzt hatten, nahm ich wieder das erste Buch über Wabi-Sabi zur Hand und las einen weiteren Text, der versuchte, die Kunst des Unvollkommenen, Unvollständigen und Unbeständigen zu erklären:

Alles, was im Universum existiert, ist permanent in Bewegung und in stetem Wandel begriffen. Nichts ist ewig, nichts existiert schon immer und für immer, alles hat einen Anfang und ein Ende.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.