Das sexuelle Leben der Catherine M. by Catherine Millet
Autor:Catherine Millet [Millet, Catherine]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3-442-30964-6
veröffentlicht: 2013-11-17T05:00:00+00:00
Auf der Schwelle
Wenn man weiß, dass ich in einer Familie aufgewachsen bin, die zu fünft in einer Dreizimmerwohnung lebte, versteht man, dass ich damals die körperliche Liebe mit einer Eroberung des Raums verband. Als ich das erste Mal von diesem Ort floh, vögelte ich zum ersten Mal. Ich bin nicht deswegen abgehauen, aber es ist eben so gekommen. Wer in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen ist, wo jeder ein Zimmer für sich allein hat, wo zumindest die Intimsphäre respektiert wird, oder wer auf dem Land lebte und auf dem Schulweg trödeln konnte, hat diese Erfahrung vielleicht nie gemacht, die Entdeckung seines eigenen Körpers war nicht abhängig von der Notwendigkeit, den Raum zu vergrößern, in dem sich der Körper bewegt. Doch ich musste große Entfernungen zurücklegen, um Zugang zu meinem eigenen Körper zu finden, musste von Paris nach Dieppe fahren und am Meer schlafen, um zu erfahren, dass ich irgendwo, an einer Stelle, die ich nicht sehen konnte und die ich mir noch gar nicht vorgestellt hatte, eine Öffnung besaß, einen so geschmeidigen und so tiefen Hohlraum, dass dort die Verlängerung des Fleischs Platz fand, die aus einem Jungen einen Jungen machte – und ein Junge war ich nicht. Der Ausdruck ist zwar veraltet, aber früher sagte man zu einem Jungen oder zu einem Mädchen, von dem oder der man annahm, dass er oder sie nicht wisse, wie die menschliche Spezies sich fortpflanzt, und folglich auch nicht wisse, was Liebe und sinnliche Befriedigung miteinander zu tun haben, er oder sie sei »unschuldig«. Ich war gewissermaßen »unschuldig«, bis ich mit zwölf die erste Blutung bekam. Mutter und Großmutter waren in großer Sorge, sie holten den Arzt; mein Vater streckte den Kopf durch die Tür und fragte lachend, ob ich Nasenbluten hätte. So weit zu meiner Aufklärung. Ich wusste nicht richtig, woher dieses Blut kam, und ich konnte die Öffnung, aus der es kam, nicht von der Öffnung unterscheiden, aus der Urin kam. Der Arzt erklärte mir sehr höflich, dass ich mich ein wenig gründlicher waschen müsse, als ich es mit dem Waschlappen tat. Er schnüffelte am Gummifingerling, mit dem er mich untersucht hatte, und sagte: »Sonst riecht es nicht gut.« Anlässlich eines Skandals bei einem Rockkonzert, wo es zu gewalttätigen Ausschreitungen kam und die Polizei eingreifen musste, kam mir schließlich eine bestimmte Vermutung. Mutter und ihre Freundinnen sprachen in meinem Beisein darüber. »Man könnte fast meinen, diese verrückt gewordenen Mädchen haben die Knüppel der Flics gepackt und sie sich reingesteckt!« Wo reingesteckt? Und warum die Knüppel? Diese Fragen beschäftigten mich eine ganze Weile.
Auch als Jugendliche hatte ich nicht mehr Ahnung als das onanierende Mädchen, das ich war. Schon als Kind merkte ich, dass mir gewisse Spiele ein tolles Gefühl bereiteten, das mit nichts anderem vergleichbar war. Mit meiner Puppe spielte ich auf eine ganz bestimmte Weise: Ich raffte den Zwickel meiner Unterhose zu einem dicken Stoffband, stopfte es in die Rille bis zwischen die Pobacken und setzte mich so hin, dass der Stoff ein wenig ins Fleisch schnitt, dann nahm ich die kleine hohle Hand einer Plastikpuppe und ließ sie über eine nackte Barbie wandern.
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