Das politische System Deutschlands by Manfred G. Schmidt
Autor:Manfred G. Schmidt
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406697043
Herausgeber: C.H.Beck
5. Die Außenpolitik im Regimevergleich
Aber nicht nur auf die Kanzler kommt es in der Außenpolitik an, wie parteipolitische Traditionen und Vorgänge der «Domestizierung» zeigen. Gewichtig sind auch die Unterschiede des politischinstitutionellen Umfeldes der Außenpolitik, insbesondere Unterschiede des politischen Regimes. Beim historischen Regimevergleich schneidet die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland besonders erfolgreich ab.[58] Sie kam bislang ohne den übersteigerten Nationalismus und die Machtstaatsambitionen des Deutschen Kaiserreiches aus. Sie vermied darüber hinaus die Schaukelpolitik zwischen Ost und West. Gegenüber den Westmächten setzte sie viel klarere und besser berechenbare Signale als beispielsweise die Außenpolitiker der Weimarer Republik, die zwischen kooperativer Westorientierung und machtpolitischer Revision hin- und hergeschwankt waren. Die Außenpolitik der Bundesrepublik nutzte auch die Schranken und die Chancen der Westbindung zum Auf- und Ausbau eines international kooperierenden Handelsstaates und zur Bildung einer Zivilmacht. Damit erwies sich die Bundesrepublik sowohl für ihre westlichen Nachbarn als auch mit Zeitverzögerung für die östlichen Länder als ein berechenbarer und kooperationsbereiter Partner.
Zu den Besonderheiten der Außenpolitik der Bundesrepublik gehört ferner, dass sie, im Schatten des nuklearen Abschreckungsgleichgewichts zwischen den Großmächten agierend, sich militärisch zurückhalten konnte. Das ist ein gewaltiger Unterschied zum Wilhelminischen Kaiserreich, das in den Ersten Weltkrieg hineinglitt, und steht im schärfsten Gegensatz zu dem militärisch auf Eroberung und Vernichtung programmierten NS-Staat. Die Außenpolitik der Bundesrepublik unterließ alles, was als Rückkehr einer kriegstreiberischen Machtstaatspolitik hätte gedeutet werden können. Vielmehr dominierten die «Kultur des Antimilitarismus»[59] und seit 1990 die Kultur einer zurückhaltenden, im Wesentlichen auf Friedenssicherung zielenden Militärpolitik[60] die Lage. Daran ändern auch die Auslandseinsätze der Bundeswehr nichts Grundlegendes, solange diese Einsätze im Rahmen von Friedenssicherung, humanitärer Intervention und Multilateralismus erfolgen.
Fachleute der Internationalen Beziehungen haben die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland als eine «Erfolgsgeschichte»[61] gewertet. Das leuchtet ein, wenn sie mit der deutschen Außenpolitik vor 1945 und der Lage im Geburtsjahr der Bundesrepublik verglichen wird.[62] Doch die These von der «Erfolgsgeschichte» ist angesichts der Kehrseite der deutschen Zivilmachtpolitik zu viel des Lobs. Die Kehrseite der Zivilmachtpolitik, auch derjenigen seit 1990, ist die offene sicherheitspolitische Flanke: Im Falle schwerer militärischer Bedrohung von außen, insbesondere durch atomare Waffen, ist Deutschland faktisch, aber ohne Garantie, auf den Schirm durch die Nuklearmacht USA angewiesen. In Fragen grundlegender militärischer Sicherheit ist und bleibt die Bundesrepublik ein «taker of security», nicht ein «maker»[63], also ein Sicherheitsnehmer, nicht ein Sicherheitsgeber, allerdings ein Sicherheitsnehmer ohne Gewähr. Und in der Europäischen Union ist trotz des allmählichen Aufbaus von militärpolitischen Kapazitäten[64] auf viele Jahre hinaus nichts von einem europäischen Schutzschirm gegen militärische Bedrohungen von außen in Sicht. Das zeugt von einer lückenhaften, riskanten Sicherheitspolitik in Deutschland. Zu den Merkwürdigkeiten dieser Sicherheitslücke gehört, dass die deutsche politische Klasse sie weitgehend zu ignorieren scheint. Dass eine zweite äußere Sicherheitslücke hinzukommt, macht die Sache nicht besser. Sie ergibt sich aus dem sicherheitspolitischen Versagen der Europäischen Union: Die EU konnte zwar mit dem Schengenraum die Binnengrenzen in der EU beseitigen, doch gelang es ihr bislang nicht, ihre Außengrenzen wirksam zu schützen, wie der Kontrollverlust bei der unkoordinierten Massenzuwanderung nach Europa von 2015 zeigt. Beide Lücken verweisen auf schwerwiegende Mängel auch der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
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