Das lukanische Doppelwerk by Knut Backhaus

Das lukanische Doppelwerk by Knut Backhaus

Autor:Knut Backhaus
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2022-05-02T09:03:51.431000+00:00


3.3.2 Lk/Apg als literarisches Experiment

Wenn wissenssoziale Herausforderungen neue Textsorten hervortreiben, überrascht die gattungskritische Unsicherheit angesichts des Opus Lucanum nicht. Es bewegt sich an einer besonders beweglichen Linie der Gattungsgeschichte, weil die Zeit frühchristlicher Identitätsbildung als solche bewegt war. Es ist ein Produkt dieser Identitätsbildung und bildet sie in seiner Achse Jerusalem/Rom narrativ ab. Die Schwellenphase ist für den Auctor ad Theophilum literarisches Experimentierfeld, das ihm nach Möglichkeiten zu tasten erlaubt, die Vergangenheit im Gegenwartsinteresse darstellbar werden zu lassen. In Gestalt einer offenen Gattungskombination bietet er dem werdenden Christentum in der kritischen Phase zwischen semioraler Erinnerungskultur und literarischer Geschichtsschreibung als Erster eine literarisch anspruchsvollere Herkunfts- und Stiftungsmemoria an.

Vielleicht können wir – mit Gerd Theißen184 – den Erfahrungshintergrund der Fortschreibung konkretisieren: Vermutlich rekurriert Lukas auf Gemeindeberichte, wie sie auch am traditionsgeschichtlichen Anfang der Wir-Stücke gestanden haben mögen. Die Fortsetzung der Jesus-Botschaft auf dem Forum der reichsrömischen Kultur war also in der mündlichen und semioralen Kommunikation bereits vorgezeichnet, und sie war es in Form eines pneumatisch gedeuteten Erfolgsnarrativs. Auf dem Hintergrund solcher sozialen Erfahrungen war die literarische Dokumentation der Missionsgeschichte als „natürliche“ Fortsetzung und Verwirklichung des Evangeliums akzeptabel oder sogar naheliegend. Der neue Gattungstyp des zweiten Logos wird so als literarischer Niederschlag innovativer Praxis erklärbar.

Nicht darum jedenfalls geht es Lukas, Gattungsästhetik neu zu ordnen, sondern die Selbstdefinition der Gattungsnutzer. Zu klären ist, welchen Darstellungs- und Deutungsgewinn Lukas, der Meister der Mimesis, damit anzielt. So sehr er auch literarisch den „Winkel“ scheut, so wenig lässt sich verhehlen, dass er – jedenfalls aus der Sicht eines gebildeten Lesers der reichsrömischen Mehrheitskultur – in einem solchen schreibt185. Zwar setzt er die urchristliche Tradition voraus, zwar strebt er zeitgenössische Literaturhöhe an, doch er lässt jene hinter sich, ohne diese ganz zu erreichen. Als er sein Werk beginnt, steht er ähnlich wie Markus an einem Nullpunkt: In Mündlichkeitskulturen liegt etwa vierzig Jahre nach dem Grundgeschehen, also mit dem allmählichen Abgang der rezenten Zeugen, die kritische Erinnerungsschwelle, an der es notwendig wird, die Geschehnisse schriftlich zu konservieren186. Markus sah sich damit vor die Herausforderung gestellt, die Erinnerung an den Stifter, die erste elementare Erfahrung des werdenden Christentums, in Form einer unmittelbar gegenwartsrelevanten, anschaulichen Form lebendig zu halten, und schuf das literarische Genus des „Evangeliums“ als episodisch-biographische Erzählung mit kerygmatischer Wirkabsicht. Die markinische Gattungsinnovation erzielte eine Vereinfachung, Veranschaulichung und Vergegenwärtigung eines maßgeblichen Lebens und sollte damit die Literaturgeschichte nachhaltig beeinflussen. Mit seinem Bios schließt sich Lukas, etwa eine Generation später, überbietend dieser Gattungsinnovation an187 und schreibt sie mit Lk 1 f. und Apg in beide Zeitrichtungen fort. Grund dafür ist die zweite elementare Erfahrung des Frühchristentums: die werdende Kirche als Transformationsgeschehen. Lukas sieht sich in der frühchristlichen Schwellenzeit vor der Herausforderung, die Kontinuität der ὁδός zum (biblisch-jüdischen) Ursprung und mit dem Stifter darzustellen. An die Form des markinischen Bios anknüpfend, ergänzt er diese durch eine episodisch-historiographische Erzählung, in der das Jesus-Kerygma, in biblischer Herkunftsmemoria verankert, auf die mediterrane Mehrheitskultur ausgerichtet, zur Sinnmitte der Entwicklung wird. Er wird so, ungeachtet der anderen Sicht des Eusebios (→ C.2.9.3), zum Archegeten der Textsorte „Kirchengeschichte“188. Die



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