Das klare Sommerlicht des Nordens by Petra Oelker
Autor:Petra Oelker [Oelker, Petra]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783644506411
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2014-07-01T04:00:00+00:00
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Kapitel 9
E
s macht wenig Sinn, über eine Reihe von Zufällen nachzudenken oder gar zu grübeln. Besser man freut sich einfach, wenn sie erfreuliche Ergebnisse zeitigen, oder nimmt sie als Lauf des Lebens hin, wenn sie unerfreulich sind. Die kleine Reihe der Zufälle in Sidonie Wartbergers vergangenen Wochen war nicht nur erfreulich, sie wirkte darüber hinaus belebend und unterbrach das Gleichmaß ihrer Tage. Das geschah ganz unauffällig, beinahe im Verborgenen, so wie andere Leute heimliche Liebschaften leben mochten. Und weil es wie ein Spiel war, wie ein Puzzle aus immer neuen Teilen, empfand sie es dennoch interessant, die Kette der Zufälle zu bedenken.
Wäre Claire Blessing nicht just an dem Tag in ihr Ankleidezimmer gekommen und hätte sie nicht mit der raschen Bewegung ihrer Röcke die misslungenen Skizzen vom Stuhl gefegt, wäre ihr kaum eingefallen, Sidonie brauche mehr Platz für ihre Arbeit an der Staffelei. Und – vor allem – besseres Licht.
Hätte wiederum Sidonie nicht hier oben umgehend ihren Elfenbeinturm eingerichtet, wäre ihr die Aushilfsschneiderin kaum mehr als im Vorbeigehen oder für die kurze Viertelstunde begegnet, in der ein Saum abgesteckt oder ein Abnäher probiert werden musste. Das war der rote Faden. Dazu gesellte sich bei genauem Hinsehen eine ganze Reihe von Nebensträngen, die mit dem Malkurs im Alstertal und dem vergangenen schweren halben Jahr zu tun hatten.
Sidonie Wartberger sah auf den über die Näharbeit gesenkten Kopf ihrer Aushilfsschneiderin und fühlte sich anders als während der letzten Wochen. Dora erschien zwar zunächst als eine spröde junge Person, Esther Wartberger hätte vielleicht etwas Impertinentes in ihren Augen entdeckt, weil sie sich nicht zwischen Hellbraun und Grün entscheiden konnten und auch nichts Devotes darin war. Doch das Spröde, zuweilen gar Schroffe, hatte sich rasch verloren, als sie unten im Ankleidezimmer vor den geöffneten Schranktüren standen. Da war etwas von Ehrfurcht vor den feinen Materialien gewesen, etwas von kindlicher Freude, und dann diese erstaunliche Fähigkeit, genau zu erkennen, welche Rüsche, welche Knopfreihe zu viel war oder fehlte, von anderer Farbe sein sollte oder geraffter. Oder welche Bluse, welcher Gürtel oder Kragen gar nicht zu ihr passte und am besten verschwand.
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Sidonie sich nicht als die schwache Kränkelnde gefühlt, als die Unvollkommene, als die, der alle rücksichtsvoll begegneten, wie einem Kind. Und indem sie sich nicht mehr so fühlte, sah sie, wie sehr sie diese Rolle hasste, die sie eher an die atemlose Mimi in der Bohème erinnerte als an eine erwachsene Frau mit Stärken und Schwächen, auch mit Talenten. Doras Freude und unverstellter Eifer gaben ihr ein Stück davon zurück. Bei allem Respekt für die Fähigkeiten und härteren Lebenserfahrungen der jungen Schneiderin (das Wort Näherin verwendete sie nicht mehr), fühlte sie sich auch als die souveräne Ältere.
Vielleicht brauchten die Menschen deshalb Kinder, um sich gut und stark zu fühlen und es dann auch zu sein. Ein schöner Gedanke – sie verwarf ihn gleich. Schließlich hatten auch böse Menschen Kinder.
Einerlei – Sidonie hatte beschlossen, nicht mehr über jede Irritation in Grübeleien zu verfallen, sondern sie als Anregung zu verstehen, genau hinzusehen – mancher Wolf entpuppte sich als Maus – und keine Angst zu haben.
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