Das geheime Spiel by Morton Kate

Das geheime Spiel by Morton Kate

Autor:Morton, Kate
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Diana Verlag
veröffentlicht: 2010-04-04T04:00:00+00:00


Von der obersten Stufe der hinteren Treppe aus suchte ich mit den Augen den dunklen Park ab. Der Mond tauchte das Gras in silbriges Licht und ließ die Kletterpflanzen am Laubengang wie Skelette erscheinen. Die Rosensträucher, prächtig anzusehen bei Tageslicht, präsentierten sich in der Nacht wie eine Ansammlung einsamer, knochiger Damen.

Schließlich entdeckte ich auf der etwas abseits gelegenen steinernen Treppe eine Gestalt, die selbst im Dunklen als menschliche zu erkennen war.

Ich straffte mich und ging hinaus in die Nacht.

Mit jedem Schritt blies mir der Wind kälter entgegen, grausamer.

Auf der obersten Stufe angekommen, blieb ich einen Moment lang neben Alfred stehen, doch er ließ sich nicht anmerken, ob er meine Anwesenheit überhaupt wahrnahm.

»Mr Hamilton hat mich geschickt«, sagte ich vorsichtig. »Du musst nicht denken, dass ich dir folge.«

Keine Antwort.

»Und du brauchst mich auch nicht zu ignorieren. Wenn du nicht ins Haus kommen willst, kannst du es mir einfach sagen, dann gehe ich wieder.«

Er starrte unverwandt auf die hohen Bäume, die den Weg säumten.

»Alfred!« Meine Stimme krächzte in der Kälte.

»Ihr glaubt alle, ich wäre derselbe Alfred, der ich vor dem Krieg war«, sagt er leise. »Die Leute erkennen mich, also muss ich diesem Alfred wohl ähnlich sehen, aber ich bin ein anderer Mensch geworden, Gracie.«

Ich war völlig verblüfft. Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet, war darauf gefasst gewesen, dass er mich wütend wegschicken würde. Er flüsterte kaum hörbar, sodass ich mich neben ihn hocken musste, um ihn zu verstehen. Seine Unterlippe zitterte, ob vor Kälte oder aus einem anderen Grund, konnte ich nicht sagen. »Ich sehe sie vor mir, Grace. Tagsüber ist es nicht so schlimm, aber die ganze Nacht sehe ich sie. Und ich höre sie. Im Salon, in der Küche, auf der Straße im Dorf. Sie rufen meinen Namen. Aber wenn ich mich umdrehe, dann … sind sie nicht … dann sind sie alle …«

Ich setzte mich. Der Frost hatte die grauen Steinstufen mit einer Eisschicht überzogen, und mein Hintern fühlte sich durch den Stoff meines Rocks ganz taub an.

»Es ist so kalt«, sagte ich. »Komm mit ins Haus, dann mache ich uns einen heißen Kakao.«

Er reagierte nicht, starrte weiterhin in die Dunkelheit.

»Alfred?« Meine Fingerspitzen berührten die seinen, und einer spontanen Eingebung folgend, nahm ich seine Hand.

»Nicht.« Er zog seine Hand zurück, als hätte ich ihn geschlagen, und ich legte meine Hände in den Schoß. Meine kalten Wangen brannten, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen.

»Nicht«, flüsterte er.

Er presste die Augen fest zu. Ich beobachtete sein Gesicht, fragte mich, was er hinter seinen Augenlidern sah, das seine Augäpfel so hektisch hin- und herzucken ließ.

Dann drehte er sich zu mir um, und ich hielt den Atem an. Es musste eine nächtliche Sinnestäuschung sein, sagte ich mir, denn solche Augen hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Tiefe, schwarze, seltsam ausdruckslose Löcher. Er starrte mich mit seinen blinden Augen an, als suchte er etwas. Eine Antwort auf eine Frage, die er nicht gestellt hatte. Ganz leise sagte er: »Ich dachte, wenn ich wieder zu Hause wäre …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.



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