Das flüsternde Glas (Glas-Triologie 2) by Heiko Hentschel
Autor:Heiko Hentschel [Hentschel, Heiko]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783965940611
Herausgeber: Südpol Verlag
veröffentlicht: 2020-08-09T22:00:00+00:00
Er hatte auf der Lauer gelegen. Tagelang. Nächtelang. Immer wieder hatte er den Jungen gesehen. Wie er sich in den Ecken der Stadt herumtrieb, wie er sich des Morgens auf den Friedhof schlich. Doch der Jäger hatte gewartet.
Viele Jahre hatte er auf eine Möglichkeit gehofft, das zu korrigieren, was angeblich nicht mehr zu ändern war. Seine furchteinflöÃende Erscheinung, seinen Zustand â der ihm trotz allem auch Vorteile brachte: Kraft, Schnelligkeit, Instinkt.
Nun lag er auf der Lauer und beobachtete den Jungen, wie er durch die leeren StraÃen von Bad Greifenstein rannte. Mitten in der Nacht, wo kein Mensch mehr einen Fuà vor die Tür setzte. Der Gestank war den Bewohnern zuwider. Hätten sie doch nur sehen können, was der Geruch in ihm auslöste. Nur weil er stärker war, stärker als die Eindrücke, grellen Lichter und Farben, war er noch klaren Verstandes. Aber auch er hatte schwache Momente. In manchen Nächten war die Luft so dick und beiÃend, dass er sie mit den Krallen packen konnte. Dann brannten seine Augen und Blitze jagten durch seinen Kopf.
Heute war es weniger schlimm. Da waren deutliche Flecken von Gelb und Orange. Solange er diese Färbung in der Luft wahrnahm, war alles zu ertragen. Aber Rot und Violett ⦠oh, wie er sie verabscheute.
Er behielt den Jungen und seinen Begleiter im Blick. Da war wieder der Gestank von totem Fleisch. Es war dieser graue Kerl. Kein Leckerbissen, dachte er und konzentrierte sich auf den Jungen. Er hielt auf den Friedhof zu.
Schon wieder zum Friedhof. Was treibt dich um?
Der Jäger verbarg sich in den Schatten und beobachtete, wie der Junge und sein Begleiter das schmiedeeiserne Tor des Leichenackers überwanden. Der junge Bursche war wendig, das hatte er schon bei ihrer ersten Begegnung bemerkt. Er trug etwas am Leib, das ihn flinker machte als all die anderen. Und der Stock, den er bei sich trug, war eine gefährliche Waffe. Das Metall konnte sich nach Wunsch verformen â mal Schwert und mal langer Stab. Eine interessante Erfindung. So interessant wie der ganze Junge und die Melodie, die er aussandte.
Jetzt, in ebendiesem Moment, spürte der Werwolf es wieder. Dieses Drängen, dieses Locken, das er zum ersten Mal gehört hatte, als der Junge seinen Weg kreuzte. Das Lied.
Es schien aus ihm herauszuströmen und den Jäger anzulocken. Wie frisches Blut. »Komm! Komm!«, rief es und das ungezähmte Tier in ihm brauchte all seine Kraft und Willensstärke, um der Melodie zu widerstehen.
Es hatte einen Augenblick gegeben, der ihn in tiefe Bestürzung versetzt hatte. Vor zwei Tagen, als das Lied plötzlich verstummt war. Hatte der Junge das Interesse an ihm verloren? Die Noten hatten sich jemand anderem zugewandt und den Verfolger verschmäht. Kurz hatte er befürchtet, nie wieder das süÃe, lockende Komm! zu hören.
Als er den Jungen dann wiedergefunden hatte, hätte er sich am liebsten auf ihn gestürzt und ihn zerrissen. Wie konnte er es wagen, ihn zu ignorieren? Doch der andere Teil von ihm, sein Vertrauter, hatte ihn zurückgehalten. Ruhig Blut, hatte er ihm zugeflüstert. Alles wird sich fügen.
Und sein Vertrauter behielt recht. Das Lied kehrte zurück.
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