Das europäische Jahrhundert by Richard J. Evans
Autor:Richard J. Evans
Die sprache: deu, deu
Format: epub
Herausgeber: Deutsche Verlags-Anstalt
veröffentlicht: 2018-08-19T16:00:00+00:00
Die Geburt der modernen Zeitmessung
Die Beschränkungen, denen der Verkehr unterworfen war, erstreckten sich nicht nur auf die Schwierigkeiten der horizontalen und vertikalen Überwindung des Raums, sondern auch auf die komplexe und – im frühen 19. Jahrhundert – weitgehend ungeregelte Frage der Messung der Zeit. In der vorindustriellen Ära wurde die Zeit in Relation zum Tageshöchststand der Sonne gemessen, und dieser hing natürlich davon ab, wo auf der Erdoberfläche man sich befand, und veränderte sich mit dem Gang der Jahreszeiten. Kaum jemand hatte gelernt, die Uhr zu lesen, denn selbst dort, wo es Uhren gab, wurde diese Fähigkeit in der Schule nicht gelehrt. Zudem gab die Einheit »Stunde« für das Vergehen der Zeit nur einen äußerst groben Anhaltspunkt, in den meisten ländlichen Gegenden läuteten die Kirchenglocken lediglich vor Gottesdiensten wie dem Morgen- und dem Abendgebet und stellten somit eine gröbere Zeitangabe dar. Die große Mehrheit der Menschen hatte kaum Bedarf, die Zeit minutengenau zu kennen; tatsächlich verfügten die meisten Uhren ausschließlich über einen Stundenzeiger, die Sitte, neben den Stunden auch die Minuten anzugeben, verbreitete sich nur langsam. Als immer mehr Männer und Frauen in die Städte zogen und in Fabriken oder Bergwerken arbeiteten, die ihnen einen Stundenlohn bezahlten, stieg für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer der Stellenwert der Zeitmessung. 1890 wurde in Amerika eine Maschine erfunden, die jeweils die Zeit auf die Karte der Angestellten stempelte, wenn diese die Fabrik betraten und wieder verließen. Bald war es eine weit verbreitete Angewohnheit, zu Arbeitsbeginn und -ende zu »stempeln«. Um Lohnabzüge wegen Zuspätkommens zu vermeiden, brauchten die Arbeiter eine eigene Uhr. Die weltweite Jahresproduktion von Taschenuhren, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei ungefähr 400000 lag, stieg bis 1875 auf 2,5 Millionen. Um die Jahrhundertwende, so der deutsche Historiker Karl Lamprecht (1856 – 1915), besaßen die 52 Millionen Einwohner Deutschlands nicht weniger als 12 Millionen Taschenuhren.
Im frühen 19. Jahrhundert hatte jede europäische Groß- oder Kleinstadt ihre eigene Zeitmessung und stellte ihre Turm- und Taschenuhren, ohne sich groß darum zu kümmern, wie es die Nachbargemeinden hielten. Die ersten Fabriken übernahmen die lokale Zeit, doch schon bald wurde der Drang zur Standardisierung unwiderstehlich, und das lag zuallererst an der zunehmenden Verbreitung der Eisenbahn. Selbst Mitte der 1870er Jahre, als Deutschland zu einem einzigen Staat vereinigt war, mussten sich die Zugfahrpläne im Reich noch immer an einer verwirrenden Vielzahl von Ortszeiten orientieren, die von Stadt zu Stadt unterschiedlich waren, und die Passagiere mussten ihre Taschenuhren eigenhändig nach der neuen Ortszeit stellen. Für Eisenbahngesellschaften wurde es zunehmend notwendig, die Zeit für den internen Gebrauch zu standardisieren; dabei konnten sie auf synchronisierbare elektrische Uhren zurückgreifen, die 1840 vom Schotten Alexander Bain (1811 – 1877) erfunden und ab Mitte der 1840er Jahre vom deutschen Uhrmacher Matthäus Hipp (1813 – 1893) in großen Stückzahlen hergestellt wurden. In Großbritannien fuhr im Postzug Richtung Irland, der jeden Morgen die Londoner Euston Station verließ, ein Bote mit einer Taschenuhr mit, die nach der Londoner Ortszeit gestellt war. In Holyhead gab er diese an die Beamten auf dem irischen Postdampfer weiter, die sie mit nach Dublin nahmen, und auf dem Rückweg nahm er sie wieder entgegen und mit nach London.
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