Das eiserne Tor by Margaret Millar

Autor:Margaret Millar [Millar, Margaret]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783257607437
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00

Sechzehn Kilometer westlich von Toronto stehen die eisernen Tore von Penwood, die seine Insassen vor der Welt und die Welt vor seinen Insassen schützen. An das schmiedeeiserne Gitter der Tore konnte die Gesellschaft ein kalt spähendes Auge legen, aber drinnen lebte die kleine Kolonie unbekümmert und ungestört vor sich hin. Sie baute fast alles, was sie verzehrte, selbst an, betrieb eine eigene Molkerei, besorgte ihre Wäsche selbst und verkaufte hin und wieder an eine neugierige Kundschaft Nadelarbeiten, Aquarelle und Korbflechtwaren. (»Von einer Verrückten gemacht, stell dir vor! Das hätte ich selbst nicht besser machen können.«)

Vater der Kolonie war ihr Direktor, Dr. Nathan, ein Psychoanalytiker, der Geschäftsmann geworden war; bemuttert wurde sie durch den Stab von Schwestern, die aufgrund ihrer Fähigkeit zu effizienter und fröhlicher {149}Empfindungslosigkeit eingestellt worden waren. Schwestern, die sich auch nur des geringsten Hangs zu Tagträumereien oder Sentimentalität verdächtig machten oder gar künstlerische Neigungen hatten, wurden nicht aufgenommen. Ein Zuviel an Phantasie konnte gefährlicher sein als Dummheit, und eine Schwäche für Gefühlsduseleien konnte den Frieden einer ganzen Station unterminieren.

Miss Scott besaß keine dieser unerwünschten Eigenschaften. Zusätzlich zu ihren wichtigen Mängeln besaß sie Verantwortungsgefühl und eine distanzierte Wärme für ihre Schützlinge. Miss Scott hörte zu und beobachtete, da ihr Gedächtnis jedoch zu wünschen übrigließ, hielt sie ihre Beobachtungen schwarz auf weiß fest und verdoppelte damit ihren Wert. Sie bemitleidete ihre Patienten (wobei sie nüchtern feststellte, daß es sehr viele Menschen gab, die weit bedauernswerter waren), aber wenn sie abends nach Dienstschluß ausging, hatte sie keine Mühe, ihre Schäfchen zu vergessen, um sich dem einen oder anderen ihrer Verehrer widmen zu können.

Unfähig, in einer großen Leidenschaft zu entflammen, gehörte sie zu dem Frauentyp, der sich eines Tages vorteilhaft verheiratet, seinem Mann treu bleibt und in angemessenen Abständen lockigen Nachwuchs auf die Welt bringt.

Obgleich er den Typ nicht sonderlich bewunderte, mochte Sands Miss Scott sofort.

»Ich bin Miss Scott«, sagte sie mit ihrer warmen, hellen Stimme. »Dr. Goodrich macht eben seinen Rundgang. Ich glaube, Sie wollen zu Mrs. Morrow, nicht wahr?«

»Ganz recht«, sagte Sands. »Mein Name ist Sands, Inspektor Sands.«

{150}Miss Scott bedachte ihn mit einem Schön-und-was-inspizieren-Sie-Blick.

»Ich bin Kriminalbeamter. Mordkommission. Ich fürchte, ich muß Mrs. Morrow sprechen.«

»Tut mir leid, aber ich glaube nicht, daß Dr. Goodrich das zuläßt«, sagte Miss Scott. »Sie war gestern nachmittag sehr schlecht beieinander. Und sie ist N.N.A., ich meine, noch nicht abgeklärt, und Dr. Goodrich …«

»Wenn ich um diese Unterredung irgendwie herumkommen könnte – ich täte nichts lieber. Es ist nicht meine Art, Kranke anzugreifen und Kinder zu kneifen, aber manchmal läßt es sich nicht vermeiden.«

Höchst sonderbar, dieser Mann, dachte Miss Scott und war im wörtlichen Sinne sprachlos.

»Wie in diesem Fall«, sagte Sands. »Was ich Mrs. Morrow zu sagen habe, kann ihr, auf lange Sicht, helfen. Wahrscheinlicher jedoch ist, daß es sie noch wirrer macht. Das wollte ich klarstellen, bevor ich mit ihr spreche.«

»Unter den Umständen bin ich überzeugt, daß Dr. Goodrich Sie nicht zu ihr lassen wird.«

»Vielleicht doch.« Er drehte sich um und schien die braunen Ledersessel im Wartezimmer zu betrachten. Vielleicht wird er tatsächlich versuchen, mich abzuwimmeln, dachte Sands, und in dem Fall muß ich ihm sagen, was ich weiß.

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