Das Vorkommnis by Julia Schoch

Das Vorkommnis by Julia Schoch

Autor:Julia Schoch [Schoch, Julia]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783423441100
Herausgeber: dtv


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In der Woche, als meine Mutter in Chicago war, wanderte ich mit den Kindern durch die Straßen des Ortes, vorbei an den Holzhäusern mit ihren Veranden, zur städtischen Bücherei. Dort gab es einen Apparat, von dem das ältere Kind fasziniert war. Die Münze, die man einwarf, kreiste lange in einer ovalen Schüssel, bevor sie durch ein dunkles Loch im Innern der Maschine verschwand. (Das Geräusch, wenn sie auf dem Berg von Münzen landete, habe ich heute noch im Ohr.) Wir buken Kekse, schauten im Waschsalon der sich drehenden Wäsche zu, spielten auf den riesigen Sitzgruppen im Foyer des Wohnheims.

An einem dieser Tage wurde ich mittags von den Frauen des Campuskindergartens mit ernster Miene empfangen. Flüsternd teilte man mir mit, dass mein Kind während des Freispiels in dem kleinen Garten einen Stein nach einem Jungen geworfen habe.

Er hat einen Stein geworfen, sagten sie und sahen mich an. Als ich nicht sofort etwas erwiderte, wiederholten sie den Satz, wie um mir das Geschehen begreiflich zu machen. Er hat einen Stein geworfen.

Der Satz hängt mir nach, noch immer, ein Satz von biblischem Ausmaß. Und noch immer versuche ich, mir die Szene vorzustellen. Wie mein Kind, ein fremdes, mir unbekanntes Kind, einen Stein nach einem Jungen wirft. Ich weiß nicht genau, wie es sich zugetragen hat, aus welchen Gründen. Es selbst schien nichts davon zu wissen. Es schwieg. (Wenn ich ihm heute davon erzähle, schaut er beschämt, halb entschuldigend. Er weiß nichts mehr von diesem Kind, das er gewesen sein soll, diesem Verrückten, dem Steinewerfer.)

Wie zur Bestätigung seines wortlosen Irrsinns nahm mich eine der Frauen mit in den Nebenraum, wo sie mir ein Bild zeigte, das mein Kind ein paar Tage zuvor gemalt hatte. Ein durchgepaustes Porträt, das die Kinder, jedes für sich, auf einem von unten beleuchteten Tisch anhand ihrer Fotos angefertigt hatten. Für einen Vierjährigen sei das Ergebnis ziemlich kläglich, wurde mir gesagt. Eine Skizze, das Gesicht reduziert auf den Umriss und die Augenhöhlen. Das Wichtigste aber, wie sie mir verständlich machen wollte, war Folgendes: Es fehlte der Mund.

Sehen Sie?, sagte sie. Sehen Sie, Ihr Kind hat sich ohne Mund gemalt.

Habe ich versucht, der Kindergärtnerin zu widersprechen? Oder ihr Gründe für den fehlenden Mund zu nennen? Habe ich mir Mühe gegeben, entspannt zu wirken? Habe ich vielleicht sogar gelacht, um der unheilvollen Stimmung, die an diesem Tag in dem kleinen Gebäude herrschte, etwas entgegenzusetzen? Von dem Tag übrig geblieben ist nur dies: Auf dem Weg über das weitgestreckte Campusgelände zurück ins Wohnheim läuft ein Kind stumm vor seiner Mutter her. Trotz des Steinwurfs ein Gefühl tiefer Verbundenheit. Jeder in seine Sprachlosigkeit vertieft, kehrten wir schweigend heim.



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