Das Verschwinden by Andrea Fazioli
Autor:Andrea Fazioli [Fazioli, Andrea]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2013-02-07T05:00:00+00:00
13
Der Sinn des Verzugs
In den Bergen oberhalb von Corvesco lebt ein alter Einsiedler mit Namen Giona oder Jonas.
Er ist eines Tages dort hinaufgestiegen und hat sich in einer Felsenhöhle wohnlich eingerichtet. Ab und zu besucht ihn jemand aus dem Dorf oder dem Tal. Man bringt ihm einen Laib Brot, Schokolade, auch einmal eine Flasche Merlot. Der alte Jonas sitzt dort oben und sieht dem dahinspringenden jungen Tresalti zu oder geht die Wanderwege ab, weil er wissen will, wo sie aufhören. Er hat einen Bart wie ein Ziegenbock, wasserhelle Augen und unzählige Runzeln.
Um ihn aufzusuchen, muss man nördlich von Corvesco durch den Wald aufsteigen, erst zwischen Edelkastanien, dann zwischen Fichten und Tannen. Nach einer Bergwiese, einer Alp, wird das Gelände felsiger, hier muss man schon ein bisschen klettern und steigen, und am Ende überquert man den Tresalti … Meist steht man gerade mitten im Wildbach, wenn eine Stimme bellt: »Wer da?«
Natalia zuckte zusammen, doch Contini beruhigte sie: »Keine Sorge. Das ist der Alte, er spielt gern den Witzbold.«
Dann hielt er die Hände als Schalltrichter an den Mund und schrie: »Wir sind Steuerfahnder! Gibt’s was zu beichten?«
In Jeans und Barchenthemd, auf dem Kopf eine uralte Mütze der Chicago Bulls und über der Schulter eine Jägertasche, kam Giona hinter einem Felsen am Flussufer hervor.
»Sieh an, bringst du endlich auch mal ein hübsches Mädchen mit!«
»Das ist Natalia«, sagte Contini. »Ich hab dir von ihr erzählt.«
»Sehr erfreut.« Giona deutete eine Verbeugung an. »Darf ich’s wagen, Ihnen den Weg zu meiner Behausung zu weisen?«
Der Alte hatte mitunter eine eigenartig geschwollene (er selbst sagte: literarische) Art zu reden und pflegte in seine Sätze gestelzte Wendungen, gelegentlich auch ausgestorbene Wörter einzuflechten. Auf seine Art war er wirklich gebildet, er las alle Bücher, deren er habhaft wurde, und die alten Zeitungen, die ihm Besucher mitbrachten. Contini besuchte ihn oft und erzählte ihm seine Sorgen, und Giona wusste meistens Rat, denn er hatte ein gutes Gespür, obwohl er fernab der Welt lebte … oder vielleicht gerade deswegen.
»Weißt du, lieber Elia, dass du von recht blasser und magerer Komplexion erscheinst?«
»Wenn du meinst.«
»Bei Liebesleid muss man essen, spricht der Dichter.«
Contini hütete sich, ihn zu fragen, welcher Dichter so sprach. Stattdessen erzählte er auf dem Weg zu Gionas Hütte von seinen jüngsten Fotosafaris zu den Füchsen. Natalia sah ihn verwirrt an, und Contini demonstrierte ihr pantomimisch die Tätigkeit des Fotografierens und sein liebstes Objekt, den Fuchs – lange Schnauze, spitze Ohren, Tasthaare, buschiger Schwanz …
»Fuchs.« Natalia wiederholte das neu gelernte Wort, wie um es sich für die Zukunft einzuprägen. »Ein Fuchs. Verstehe.«
Bei Gionas Unterkunft angelangt, bot ihnen der Alte Kaffee an und fragte, ob sie zum Essen bleiben wollten.
»Hasenragout ist noch da, und ich könnte zur Begleitung eine Polenta aufsetzen. Freilich ein frugales Mahl, aber wenn ihr euch damit begnügen wollt …«
»Klar«, sagte Contini. »Wir teilen gern mit dir das Wenige, das du besitzest.«
Giona, der leisen Spott witterte, musterte ihn finster, sagte aber nichts. Er schürte seinen Herd ein und forderte die Gäste auf, es sich bequem zu machen. Die Einrichtung seiner Felsenhütte
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