Das Vermächtnis von Papst Franziskus by Englisch Andreas

Das Vermächtnis von Papst Franziskus by Englisch Andreas

Autor:Englisch, Andreas [Englisch, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: C.Bertelsmann Verlag
veröffentlicht: 2023-03-01T00:00:00+00:00


Amoris Laetitia

Ich kann mich genau an den Moment erinnern, als ich in diesem Jahr 2016 begriff, dass ich einen Riesenfehler gemacht hatte. Ich trank einen Kaffee bei einem älteren ehemaligen Nuntius des Vatikans, und er sah mich mitten im Gespräch plötzlich grimmig und mit weit aufgerissenen Augen an. Dann sagte er: »Ratzinger, ja, aber Bergoglio?«

In diesem Augenblick begriff ich, dass ich die Situation völlig falsch eingeschätzt hatte und nicht eine Auseinandersetzung, sondern eine theologische Schlacht bevorstand, die Jahre dauern würde.

Am 8. April 2016 war das postsynodale Schreiben Amoris Laetitia (Freuden der Liebe) vorgestellt worden. Ich hatte den Text gelesen und mir überhaupt nichts dabei gedacht. Jetzt in dem Gespräch begriff ich, dass das ein Fehler gewesen war. Zu meiner Verteidigung muss ich vielleicht sagen, dass ich schon spannendere Texte gelesen habe als postsynodale Schreiben. Es sind Texte, die üblicherweise ein Papst nach einer Synode schreibt, um den Stand der Diskussion zusammenzufassen und seine Meinung dazu zu Papier zu bringen. Ich hatte den Text aufmerksam gelesen, aber ganz offensichtlich nicht erkannt, welchen Sprengsatz er enthielt. Mein Gegenüber wiederholte jetzt noch mal: »Ratzinger könnte so ein Thema bearbeiten, ein Mann von seinem Format. Aber Bergoglio? Ich habe alles, was er geschrieben hat, gelesen, und ich habe nicht lange dafür gebraucht. Der hat doch keine Ahnung von Theologie. Was der da machen will, ist nicht mehr hinnehmbar. Dagegen müssen wir jetzt aufbegehren, alle zusammen.«

Jetzt war es also passiert. Jorge Mario Bergoglio, der erste Papst ohne akademischen Titel seit über 100 Jahren, hatte es gewagt, ein heikles theologisches Thema anzugehen. Für viele im Vatikan war das unverzeihlich. Bergoglio, der im Vatikan als Schmalspurtheologe verunglimpft wurde, hatte es gewagt, der heiligen Mutter Kirche in einer entscheidenden Frage einen neuen Kurs zu verpassen.

Ich hätte eigentlich ahnen müssen, dass Amoris Laetitia theologischen Sprengstoff enthielt. Denn der Papst hatte einen ungewöhnlichen Mann ausgesucht, um den Text vorzustellen: Kardinal Christoph Schönborn, den Erzbischof von Wien. Der Österreicher ist aus einem bestimmten Grund ein besonderer Kirchenmann: Er hat Erfahrung mit Ärger in der allerobersten Etage. Christoph Schönborn hatte es gewagt, einen der mächtigsten Männer im Vatikan, den langjährigen Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano, frontal anzugreifen. Schönborn hatte erklärt, dass Sodano die Ermittlungen gegen den Sexualstraftäter und Wiener Erzbischof Kardinal Hans Hermann Groër behindert habe. Außerdem hatte Schönborn Unübersehbares gesagt, nämlich dass der Satz von Angelo Sodano während des Ostergottesdienstes des Jahres 2010, es handele sich bei den Informationen über den Missbrauch nur um »Gequatsche«, eine Beleidigung und Missachtung der Opfer darstelle. Schönborn hatte natürlich völlig recht, wurde aber von Papst Benedikt XVI . im Sommer 2010 in den Vatikan zitiert, um sich persönlich zu entschuldigen. Das Gespräch muss ausgesprochen unangenehm gewesen sein. Wenn der Papst also ausgerechnet Christoph Schönborn diese Schrift vorstellen ließ, hatte er offensichtlich damit gerechnet, dass es in den allerhöchsten Kreisen der Kirche heftigen Streit geben könnte. Einen Streit, für den er einen Frontmann wie Christoph Schönborn brauchte.

Genau so kam es auch: In den kommenden Monaten sollte etwas eintreten, was im Vatikan nur äußerst selten eintritt, eine gut organisierte Revolte gegen den Papst.



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