Das Scheusal by Alice Herdan-Zuckmayer
Autor:Alice Herdan-Zuckmayer [Herdan-Zuckmayer, Alice]
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Drei Tage später fuhren wir nach St. Niklaus im deutschsprachigen Oberwallis. Ich hatte im Mai ein Standquartier für uns gesucht, nicht zu hoch gelegen und billig, das waren die Voraussetzungen. St. Niklaus war damals ein stilles Dorf mit einer schönen Kirche, nur mit der Bahn zu erreichen, noch ohne Autostraße. Es lag auf dem Fußweg nach Zermatt und hatte viele Wege in die hohen Berge.
Wir wohnten in dem einzigen Hotel, das es damals gab. Es hatte eine Steinfassade und war innen abwechslungsreich gebaut, es hatte Gänge mit steinernen Bogen und Geländer, von denen man auf einen gedeckten Hof sehen konnte. Die Zimmer waren groß, kühl und ruhig, das Essen war gut, die Gäste wurden damals noch wahrgenommen, und man kümmerte sich um sie.
Die Zeit verging allzu rasch. Spaziergänge und Ausflüge wurden unternommen, auf Hochtouren verzichteten die Brüder, um den Eltern nicht den geringsten Anlaß zur Sorge zu geben.
Die englische Enkelin hatte schon von Chardonne aus in ihr Internat fahren müssen, und der ›Türk‹ fuhr einige Tage vor der Abreise der Eltern von St. Niklaus zurück in die Türkei.
Wir vier verbrachten die letzten Tage in tiefem Frieden, selbst Mucki schien sich, unauffällig werdend, in den Frieden zu fügen.
Da geschah etwas Merkwürdiges.
Es war am vorletzten Abend, wir saßen im sogenannten Salon an einem Tisch beim Fenster. Die hohen Parterrefenster und die Holzläden davor waren geschlossen und verriegelt. Es war spät geworden, wir waren die einzigen Gäste in dem Raum. Plötzlich wurde an den Fensterladen hinter uns mit der Faust geschlagen, und eine Männerstimme rief etwas Unverständliches.
Die Mutter wurde totenblaß, faßte nach der Hand des Vaters und sagte: »Sie kommen uns abholen!« Der Vater sagte: »Wir sind in der Schweiz, hier tun sie uns nichts!« Sie schwiegen und hielten sich fest an den Händen. Zuck war in die Halle gegangen zum Nachtportier, er deutete auf die verschlossene Haustüre und sagte: »Jemand will herein!« Winnetou saß neben mir, sie war mehr erschrocken über das seltsame Verhalten der Großeltern als über das Klopfen am Fenster. Sie fragte mich leise: »Haben die Großeltern, auch so wie ich, Angst vor Einbrechern und Mördern?«
»Sie haben Angst«, sagte ich.
Am übernächsten Tag brachten wir sie zu ihrem Zug. Wir nahmen Abschied. Sie fuhren nach Hause, in ihre Stadt, in der ihr Haus vier Jahre später durch Bomben zerstört wurde.
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