Das Maedchen aus Stockholm by Hanne-Vibeke Holst

Das Maedchen aus Stockholm by Hanne-Vibeke Holst

Autor:Hanne-Vibeke Holst [Holst, Hanne-Vibeke]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492964913
Google: McgVAwAAQBAJ
Herausgeber: Piper Verlag
veröffentlicht: 2014-05-11T22:00:00+00:00


Oktober 1958

Nachdem die Lok das Tempo auf dem letzten Stück durch die Außenbezirke der Stadt mit ihren Wohnblocks und kleineren Betrieben, die in der frühen Morgendämmerung lagen, gesenkt hatte, verkündeten die quietschenden Bremsen, dass der Nachtzug von Kopenhagen nur noch wenige Meter von seinem Endziel, dem Hauptbahnhof von Stockholm, entfernt war.

Galant bot Leo einer imposanten älteren Dame, die ihn an seine Großmutter in ihren glücklichen Tagen erinnerte, an, ihr mit dem schweren Koffer zu helfen. Er selbst hatte nur seine Aktentasche mit Rasierzeug, Zahnbürste, Deodorant und einem zusätzlichen Hemd dabei. Er musste noch am selben Abend zurück, sodass er nichts weiter benötigte.

»Sie reisen mit leichtem Gepäck?«, bemerkte die ältere Dame, die Dänin und schwerhörig war und deshalb sehr laut sprach. »Was führt Sie nach Stockholm?«

Leo lächelte entwaffnend, während er über eine passende Antwort nachdachte.

»Öh …«

»Eine private Angelegenheit?«

»Ja, privat«, antwortete er, das zumindest war klar. Ansonsten ahnte er, ehrlich gesagt, nicht, was ihn erwartete, und das machte ihn nervös, so nervös, dass er unterwegs mehrmals aus der Schlafkoje hatte klettern müssen, um das Zug-WC mit dem Loch aufzusuchen, durch das man die vorbeigleitenden Schwellen sehen konnte. Während der Zug durch weitläufige Birkenwälder und an kleinen Seen vorbeistampfte, die im Mondlicht wie Silbermünzen glänzten, fragte er sich zum hundertsten Mal, ob er das Richtige tat. Jedes Mal kam er zu dem gleichen Ergebnis – es gab keine andere Lösung. Den Beschluss hatte er ganz allein gefasst, ohne mit jemandem darüber zu reden. Seit er Ninnis Telegramm bekommen und sie, wie gebeten, sofort angerufen hatte, hatte er gewusst, dass er diese Angelegenheit alleine meistern musste. Mit niemandem hatte er darüber reden können, und schon gar nicht mit Leif, der sich in seiner Ehe wie ein gezähmter Panther gebärdete und bereits Fett angesetzt hatte. Obwohl Leif mehrmals gebohrt und gemeint hatte, dass irgendetwas seinen Zwillingsbruder bedrücke, hatte er nicht nachgegeben. Nicht in den vielen Wochen nach dem brieflichen Bruch mit Ninni, in denen er unter einem alles verzehrenden Liebeskummer gelitten und trotzdem standfest Ninnis Briefe, ungeöffnet und ungelesen, zurückgeschickt hatte, obwohl er sich verweifelt danach sehnte, sie zu lesen. Nichts hatte er Leif verraten, weder dass er sich auf die leidenschaftliche Korrespondenz mit Ninni eingelassen noch dass er sie abrupt beendet hatte. Auch das Geheimnis ihres Vaters war unerwähnt geblieben, obwohl er mehrere Male in Versuchung war. Doch auf die eine oder andere Weise hing der Betrug seines Vaters mit seinem eigenen zusammen, sodass er ihn für sich behielt, darüber nachgrübelte, darunter litt.

Als das Telegramm dann gestern Morgen kam – es fühlte sich an, als sei es eine Ewigkeit her: Ruf mich an, wichtig!, gefolgt von ihrer Telefonnummer –, war die einzig logische Konsequenz aus seinen vorherigen Handlungen die gewesen, dass er sich selbst darum kümmerte. Hatte er geahnt, um was es ging? Nun, zumindest war er nicht überrascht, als er in einer schalldichten Telefonzelle in der Post in der Købmagergade Ninnis Klagegesang zuhörte.

»Ich bin schwanger, Leo.« Mehr bekam sie nicht heraus, bevor sie in Tränen ausbrach. Er versuchte, sie zu trösten und zu



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