Das Lied des Wasserfalls by Caspari Sofia

Autor:Caspari, Sofia [Caspari, Sofia]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-08-24T04:00:00+00:00

»Meine Güte, Aurora!« Lenchen lachte warm, als sie ihre Großnichte in die Arme schloss. »Du bist wirklich eine richtige Frau geworden!« Sie nahm nun auch Leonora in den Arm. »Ich wollte dir schon beim Begrüßungsfest deiner Tante sagen, dass du mir ganz verändert vorkommst, Aurora.« Lenchen hob gespielt anklagend den Zeigefinger. »Aber hier bei mir im Atelier hast du dich lange nicht blicken lassen!«

Aurora senkte den Kopf. Lenchen hatte Recht, sie war tatsächlich in letzter Zeit weniger häufig da gewesen, es gab einfach so viel zu tun im Krankenhaus, ihre freie Zeit war knapp bemessen. Dabei war Lenchen eine so gute Gesprächspartnerin gewesen, als sie erste Veränderungen an ihrem Körper wahrgenommen und so viele Fragen gehabt hatte, als sie vom Kind zur Frau geworden war.

Lenchen verschwand jetzt in einem Nebenzimmer und kam dann mit einem blaugrünen Taftkleid mit kleinen bestickten Volants aus Chiffon am Rocksaum zurück. Eine Reihe geometrischer Stickereien schmückten auch den Halsausschnitt. Das Oberteil war hochgeschlossen, die Ärmel ebenfalls aus Chiffon. Aurora war begeistert.

Leonora ging es ebenso. »Aurora, das ist wunderschön«, rief sie aus. »Lenchen, du hast dich wieder einmal selbst übertroffen! Aber wie hast du das nur so schnell hinbekommen?« Sie schüttelte fassungslos den Kopf.

Lenchen lachte wieder. »Meine Helferinnen und ich haben eben die ganze Nacht hindurch genäht.«

Leonora riss die Augen auf.

»Ich hatte das Kleid für Auroras Geburtstag geplant, aber nachdem du, Leonora, mir so eindringlich klargemacht hast, dass Aurora jetzt ein Kleid benötigt, da habe ich …«

Sie kam nicht dazu weiterzusprechen. Mit einem »Danke, liebste Tante!«, warf Aurora sich ihrer Großtante in die Arme und wollte sie gar nicht mehr loslassen.

»Aber, aber«, murmelte die, »du weißt doch, dass ich immer für dich da bin.«

Für einen Moment hielten sich die beiden umfangen. Aurora dachte an den Tag, als sie Lenchen erstmals in ihrem Atelier hatte besuchen dürfen. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass sich Großmamas Schwester nur für ihre Arbeit und für nichts sonst interessiere, vor allem nicht für Kinder, doch Aurora hatte sie anders kennengelernt. Ja, Tante Lenchen liebte ihre Arbeit und ja, sie war vielleicht etwas unbeholfener mit ihrer Großnichte umgegangen, aber das hatte sich schnell gelegt. Sehr bald hatte Aurora verstanden, dass Lenchen eben nur eine sehr selbstständige Frau war, die niemals geheiratet hatte, aber das hieß nicht, dass sie sich nicht für Beziehungen oder andere Menschen interessierte. Die Tante hatte stets viel Kluges zum allgemeinen Miteinander zu sagen.

»Komm«, sagte Lenchen jetzt, »ich denke, das Kleid wird gut passen, aber kleinere Änderungen müssen wir vielleicht doch noch vornehmen.«

Leonora klatschte in die Hände vor Begeisterung, als Aurora das Kleid anprobierte. »Meine Güte, diese Farbe ist ja wie für dich gemacht!«

Auch Aurora bewunderte sich zufrieden in dem großen Atelierspiegel. Lenchen und eine Helferin begutachteten mit ernsten und aufmerksamen Blicken, welche Änderungsarbeiten noch vorgenommen werden mussten. Es waren tatsächlich nur noch Kleinigkeiten – einem gemeinsamen Abend mit Felipe, Leonora, Raúl und ihr stand also nichts mehr im Wege.

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