Das Lied der Luege by Ricarda Martin

Autor:Ricarda Martin [Martin, Ricarda]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426508145
Herausgeber: Droemer Knaur
veröffentlicht: 2013-01-31T23:00:00+00:00

In den nächsten Tagen erfuhr Susan Einzelheiten, denn Esperanza erzählte jedem, der es hören wollte oder auch nicht, von ihrem neuen Engagement.

»Sie wollen etwas Frisches in New York haben«, entgegnete sie auf die Frage, ob es denn in Amerika nicht genügend eigene Schauspielerinnen geben würde. »Nathan Schneyder meinte, mein Akzent wäre ganz entzückend und würde das Publikum sofort begeistern.«

Nicht nur Susan hätte diesen Nathan Schneyder gerne einmal persönlich kennengelernt. Da dieser jedoch seine neue Hauptdarstellerin gefunden hatte, reiste er bereits zwei Tage später wieder nach New York zurück. Leonard Kingsley, sein Assistent, würde in England bleiben, alles regeln, was zu regeln war, und dann Anfang bis Mitte April gemeinsam mit Esperanza nach Amerika fahren.

»Natürlich brauche ich eine neue Garderobe«, sagte Esperanza. »Die Mode dort drüben ist eine völlig andere. Viel offener und lockerer als im prüden England. Ich habe gehört, in Amerika soll es Frauen geben, die darauf verzichten, ein Korsett zu tragen. Man stelle sich das mal vor!«

»Sarah Bernhardt trägt nie ein Korsett«, murmelte Susan so leise, dass Esperanza sie nicht verstehen konnte, denn sie wollte keine neuerliche Diskussion über Madame Sarah vom Zaun brechen.

Die Aussicht, bald der neue Star am New Yorker Theaterhimmel zu werden, hatte Esperanza regelrecht beflügelt. Sie sang und spielte die Rolle der Gloria in You never can tell mit einem Enthusiasmus, der sie von Tag zu Tag besser werden ließ. Susan, die nach wie vor ebenfalls die Rolle der Gloria probte, war sich bewusst, dass sie noch sehr viel üben musste, wenn sie Esperanza ab April ersetzen sollte. Es war nämlich geplant, Shaws Stück bis mindestens zum Sommer zu spielen, auch wenn die Hauptdarstellerin das Theater verlassen würde. Susan war fest entschlossen, Esperanza nicht zu ersetzen – nein, sie wollte ja keine Kopie von ihr sein –, sondern der Rolle ihre eigene Persönlichkeit einzuhauchen.

Obwohl bisher niemand richtig mit Esperanza befreundet gewesen war, bedauerten nun doch einige, sie als Kollegin zu verlieren. Es war unbestritten, dass Esperanza trotz ihrer Art eine gute Schauspielerin war, die dem Theater stets ein volles Haus bescherte. Als nun allgemein bekannt wurde, dass sie an den Broadway nach New York wechseln würde, rannten die Leute dem Blue Horizon die Türen ein, um Esperanza Montoya noch einmal auf der Bühne zu erleben. Für alle war klar, dass sie wohl niemals nach England zurückkehren würde. Wer einmal in Amerika Fuß fasste und dort Erfolge feierte, verließ das Land nicht mehr. Esperanzas Vertrag war vorerst nur für drei Monate abgeschlossen worden, sie hatte aber keinen Zweifel daran, dass ihr die Stadt zu Füßen liegen und das Publikum sie nie wieder fortlassen würde.

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