Das Katastrophenprinzip. by Stanislaw Lem
Autor:Stanislaw Lem [Lem, Stanislaw]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783518374993
Herausgeber: Suhrkamp
veröffentlicht: 1996-01-01T23:00:00+00:00
IV
Wodurch unterscheidet sich die neue Vorstellung über das Leben im Kosmos von der bisherigen? Es war seit langem bekannt, daß der planetaren Geburt des Lebens eine lange Serie bestimmter Ereignisse vorausgehen muß, angefangen mit der Entstehung eines langlebigen und ruhig strahlenden Sterns vom Typ der Sonne, und daß dieser Stern eine Planetenfamilie bilden muß. Dagegen war nicht bekannt, daß die Spiralarme einer Galaxie abwechselnd Geburtsstätten und Guillotinen des Lebens sind (oder sein können), je nachdem, in welchem Entwicklungsstadium die sternbildende Materie durch die Spirale hindurchwandert und an welcher Stelle des Arms diese Passage erfolgt.
Bei dem erwähnten Symposion in Bjurakan hat außer mir niemand die Auffassung vertreten, daß die Verteilung der Himmelskörper, auf denen Leben entsteht, in spezifischer Weise abhängig sei von Vorgängen, die über die Größenordnung von Planeten und Sternen hinausweisen, weil sie nämlich von galaktischen Ausmaßen sind. Natürlich habe auch ich nicht gewußt, daß die Bewegung der sternbildenden Wolke auf dem Korotationskreis zur Kette dieser Vorgänge gehört, daß es der »richtigen« Synchronisation zwischen der Sternbildung innerhalb einer solchen Wolke und den Eruptionen von Supernovae außerhalb bedarf und daß außerdem – conditio, sine qua non est longa vita – ein System, in dem die Biogenese begonnen hat, schleunigst aus dem turbulenten Bereich der Spirale heraus »muß« in die stille Leere des Raumes zwischen den Armen.
Seit Ende der siebziger Jahre ist es Mode geworden, die kosmogonischen Hypothesen um einen Faktor zu bereichern, den man Anthropic Principle nennt. Dieser Faktor reduziert das Rätsel der Anfangsbedingungen des Kosmos auf ein Argument ad hominem: Wären jene Bedingungen radikal andere gewesen, als sie es in Wirklichkeit waren, so wäre diese Frage nicht entstanden, denn dann würde es auch uns nicht geben.
Man erkennt unschwer, daß das Anthropic Principle genaugenommen (der Homo sapiens ist deshalb entstanden, weil diese Möglichkeit schon im Urknall, also in den Anfangsbedingungen des Universums enthalten war) wissenschaftlich genausoviel taugt wie ein »Chartreuse Liqueur Principle« als kosmogonisches Kriterium. Gewiß wurde die Erzeugung dieses Likörs durch die Eigenschaften der Materie DIESES Kosmos ermöglicht, doch kann man sich die Geschichte DIESES Kosmos, DIESER Sonne, DIESER Erde und DIESER Menschheit sehr wohl OHNE die Entstehung von Chartreuse vorstellen. Dieser Likör ist entstanden, weil die Menschen sich lange mit der Erzeugung verschiedener Getränke befaßt haben, darunter auch solcher, die Alkohol, Zucker und Pflanzenextrakte enthalten. Dies ist eine sinnvolle, wenn auch allgemeine Antwort. Wenn dagegen auf die Frage nach der Entstehung dieses Likörs geantwortet wird, daß er entstanden sei, »weil die Anfangsbedingungen des Kosmos entsprechend waren«, so ist diese Antwort in geradezu lächerlicher Weise unzureichend. Ebensogut könnte man behaupten, daß der Volkswagen oder die Briefmarke ihre Entstehung den Anfangsbedingungen des Weltalls verdanken. Eine solche Antwort erklärt ignotum per ignotum. Zugleich stellt sie einen circulus in explicando dar: Es entstand, was entstehen konnte. Eine solche Antwort geht an der auffälligsten Besonderheit des Urkosmos vorbei. Nach der herrschenden Urknalltheorie ist der Kosmos mit einer Explosion entstanden, die gleichzeitig die Materie, die Zeit und den Raum schuf. Die machtvolle Ausstrahlung der weltschöpferischen Explosion hat Spuren im Kosmos hinterlassen, die auch heute noch zu beobachten sind, denn ihre Überreste sind als Hintergrundstrahlung allgegenwärtig.
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