Das Haus der zwanzigtausend Bücher by Sasha Abramsky

Das Haus der zwanzigtausend Bücher by Sasha Abramsky

Autor:Sasha Abramsky [Abramsky, Sasha]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783423428682
Herausgeber: Deutscher Taschenbuch Verlag
veröffentlicht: 2015-10-22T16:00:00+00:00


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Gegenüber der Wohnzimmertür, von der Diele aus gesehen, stand auf der Regalwand links vom Kamin, ungefähr in Augenhöhe, eine Reihe von Büchern über den Holocaust. Darunter war ein stattlicher Band der Historikerin Lucy Dawidowicz mit dem Titel Der Krieg gegen die Juden 1933–1945. Mit etwa zehn Jahren begann ich, Chimen Fragen zum Holocaust zu stellen. Schließlich war dies eines der großen Themen im Hillway, eine allgegenwärtige Realität, auf die am Esstisch mit schreckenerregenden, bisweilen verschlüsselten Bemerkungen angespielt wurde. Hin und wieder kamen Überlebende zum Abendessen vorbei. Häufig erzählten Freunde, die vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vom europäischen Festland geflohen waren, ihre Geschichte. Fred Barber, der vornehme glatzköpfige Arzt, der um die Ecke wohnte, ließ Bemerkungen über das Leben in der Tschechoslowakei der Vorkriegsjahre fallen; die Cousins und Cousinen aus Frankreich – Irene und ihre Töchter; Jeanette und Michel und ihre Kinder –, die viele ihrer Angehörigen in den Todeslagern verloren hatten, kamen zu Besuch.

Statt mich mit abgemilderten Halbwahrheiten abzuspeisen, um meine jungen Ohren vor dem wahren Ausmaß zu schützen, oder mich mit Erklärungen zu trösten, die mehr verbargen als enthüllten, nahm Chimen, ganz der Historiker, zielsicher ein Buch aus dem Regal und forderte mich auf, es zu lesen: Das Umschlagmotiv, oben weiß, mit gezackten, angesengten Rändern, die unten in Rot übergingen, gemahnte in abstrakter Weise an Blut und Feuer und Massaker, an niedergebrannte Ghettos und in Verbrennungsöfen geworfene Leichen. Ich entsinne mich noch gut meines Entsetzens, als ich über Auschwitz las; und für den Fall, dass ich je eine Gedächtnisstütze nötig haben sollte, befindet sich das Buch in meinem Besitz. Es steht gleich neben Art Spiegelmans Maus. Die Geschichte eines Überlebenden und nur ein paar Bände entfernt von William Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reiches. Das Umschlagmotiv, das auch an brennende Papierfetzen denken lässt, ähnelt den glimmenden Papierbögen, die am 11. September 2001 vom World Trade Center herabschwebten bis nach Brooklyn, wo ich damals wohnte. An jenem grauenhaften Tag sammelte ich einige der Bögen auf und legte sie in eine beigefarbene Mappe als (wenn auch unzulängliche) Mahnung an die Fähigkeit des Bösen, unvermittelt aus einem klaren blauen Himmel auf die Erde herabzustürzen.

Chimen hatte in dem Buch die Passagen, die er besonders erschütternd fand, sorgfältig mit Bleistift unterstrichen. Hitlers Endlösungsprogramm, schrieb Dawidowicz, »war Teil einer Erlösungsideologie, die es für möglich hielt, in den Himmel zu gelangen, indem man die Hölle auf Erden entfesselte«. »Der Teufel ist los«, hatte Friedrich Reck-Malleczewen am 30. Oktober 1942 in seinem Tagebuch notiert. Das bedeutendste Ereignis unserer Zeit, erklärte André Malraux, sei »die Rückkehr des Satans«, womit er das deutsche System des Terrors meinte. Chimen hatte sowohl die englisch- als auch die französischsprachige Erwähnung des Teufels unterstrichen. Es war meines Wissens das einzige Mal, dass er auf Allegorien hinwies, um ein historisches Ereignis zu beschreiben. Und es sagt, glaube ich, viel aus über den Mangel an Wörtern, mit denen sich eine so grenzenlose Grausamkeit hätte beschreiben lassen können. Mein Großvater, der sonst nie nach Worten suchte, verstummte häufig, wenn das Gespräch auf den Holocaust kam.



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