Das Haus der Tibeterin by Cesco Federica de

Das Haus der Tibeterin by Cesco Federica de

Autor:Cesco, Federica de [Cesco, Federica de]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: PeP eBooks
veröffentlicht: 2013-12-18T05:00:00+00:00


SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Longsela ging schnell, wobei sie darauf achtete, dass sie so gut wie möglich im Schatten blieb. Es war bald Mitternacht, und obwohl die Straßen leer waren, vibrierte ein geheimnisvolles Wimmern über der Stadt, dann und wann von einem Klagelaut durchbrochen. Es war sehr kalt, eine durchdringende, beißende Kälte. In der Ferne waren die unteren Nebelschichten weiß erleuchtet. Von der Ringstraße kam ein Dröhnen, wenn Truppentransporte vorbeirollten. Es kam oft vor, dass Stiefel auf dem Pflaster zu hören waren, laut und im Gleichschritt. Longsela hörte sie kommen, was ihr Zeit gab, sich zu verstecken. Die Soldaten bildeten Gruppen von zehn oder fünfzehn Mann, das Gewehr im Anschlag. Sie packten wahllos die Leute, die sie fanden, durchsuchten sie nach Waffen und nach Nahrungsmitteln. Dann und wann huschten Scheinwerfer wie gespenstische Pinsel durch die Nacht. Lastwagen rumpelten daher, beladen mit Soldaten, die Parolen schrien oder Warnschüsse abgaben. Entfernte sich der Lärm, kamen die Menschen wieder aus ihren Verstecken. Longsela versuchte nicht mehr an Yangzom zu denken, obschon deren durchdringender Geruch noch an ihren Fingern haftete. Die Leiden der vergangenen Zeit hatten sich in ihr angesammelt wie in einer Schale, alle Schmerzen lagen darin. Im Gehen entsann sich Longsela daran, wie Lhasa einst voller Licht und Leben gewesen war, wie die Vornehmen, in kostbare Gewänder und Pelze gehüllt, auf edlen Pferden vorbeiritten, wie die Stimmen der Mönche über der Stadt sangen, wie die Butterlampen brannten. Ob die Flammen in den Kupfergefäßen der Armen oder in den Goldschalen der Reichen brannten, derselbe Glaube leuchtete aus ihnen, sprach die Berge, die Stadt, ja den Tagesablauf heilig. Nun beleuchtete der Mond eine Gespensterstadt, in der nur die Angst eine Heimat fand. Er schwebte bereits tiefer, dieser Mond, als Longsela den Norbulingka erreichte. Die Mauer war an vielen Stellen beschossen worden. Longsela sah durch die Löcher Teile des zerstörten Sommerpalastes. Ein seltsamer Phosphorschimmer hing über den Ruinen, der weder Wärme noch Helligkeit verbreitete. Longsela konnte nicht ausmachen, was es war, vielleicht eine trübe Spiegelung des Mondes. Ein säuerlicher, unheimlicher Gestank lag in der Luft. Der Kyi Chu floss ganz nahe. Longsela hatte den Verdacht, dass die Chinesen Chemikalien in den Fluss geschüttet hatten, um das Trinkwasser zu verseuchen. Selbst die Frische unter den Bäumen schien mit Gift getränkt. Da, schon wieder ein Spähtrupp! Longsela hörte von Weitem ihre Schritte, erreichte noch rechtzeitig eine Gruppe von Weiden am Ufer. Die hängenden Zweige bildeten ein gesprenkeltes Netz, dicht genug, dass sie sich in ihm verbergen konnte. Von ihren hüpfenden Schatten begleitet, stapften die Soldaten an ihr vorbei. Longsela duckte sich tiefer und rührte sich nicht, bis sich die Schritte entfernten. Dann kroch sie aus ihrem Versteck hervor, lief - immer noch geduckt - im Schatten der Böschung weiter. Der Fluss murmelte und schwappte auf den Steinen. Einige Male sah Longsela aufgedunsene Leichen vorbeiziehen. Sie glichen jenen ausgestopften Puppen, wie sie die Kinder aus Stroh und Lumpen anfertigten. Longselas Lippen bewegten sich bei ihrem Anblick in einem lautlosen Gebet. Sie war nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt, der kleinen Sommerresidenz ihrer Eltern, wo sie Ling so oft besucht hatte.



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