Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner by Fjodr Michailowitsch Dostojewski

Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner by Fjodr Michailowitsch Dostojewski

Autor:Fjodr Michailowitsch Dostojewski [Dostojewski, Fjodr Michailowitsch]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2010-12-21T16:52:10.540238+00:00


X

Misintschikow

Das Gebäude, zu dem mich Gawrila führte, hieß nur aus alter Gewohnheit ›das neue Häuschen‹, war aber schon vor langer Zeit von dem früheren Besitzer des Gutes errichtet worden. Es war ein hübsches Holzhäuschen, das in einiger Entfernung von dem alten Haus mitten im Garten stand. Von drei Seiten umgaben es hohe, alte Lindenbäume, die mit ihren Zweigen das Dach berührten. Alle vier Zimmer dieses Häuschens waren nett möbliert und zur Aufnahme von Gästen bestimmt. Als ich in das mir zugewiesene Zimmer trat, in welches auch mein Koffer gebracht worden war, erblickte ich auf einem Tischchen vor dem Bett ein Blatt Briefpapier, das mit vorzüglicher Schrift in verschiedenen Schriftarten bedeckt und mit Girlanden, Federzügen und Schnörkeln verziert war. Die Anfangsbuchstaben und die Girlanden waren mit verschiedenen Farben ausgemalt. Alles zusammenstellte ein sehr hübsches Werk der Kalligraphie dar. Gleich aus den ersten Worten, die ich las, ersah ich, daß dies ein an mich adressiertes Bittgesuch war, in welchem ich ein ›hochgebildeter Wohltäter‹ genannt wurde. Die Überschrift lautete: ›Widopljassows Wehklagens‹. Aber wie sehr ich auch meine Aufmerksamkeit anstrengte, um wenigstens etwas von dem Inhalt zu verstehen, so blieben doch alle meine Bemühungen fruchtlos: es war der blühendste Unsinn, in hochtrabendem Bedientenstil geschrieben. Ich erriet nur, daß Widopljassow sich in einer traurigen Lage befand, mich um Beistand bat, in irgendwelcher Hinsicht ›von wegen meiner Bildung‹, wie er sich ausdrückte, auf mich seine Hoffnung setzte und zum Schluß bat, ich möchte mich für ihn bei meinem Onkel verwenden und auf diesen durch ›meinen Mechanismus‹ einwirken; so hieß es wörtlich am Ende dieses Schreibens. Ich war noch damit beschäftigt, dasselbe zu lesen, als sich die Tür öffnete und Misintschikow hereintrat.

»Ich hoffe, Sie werden mir erlauben, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er ungeniert, aber sehr höflich und reichte mir die Hand. »Vorhin hatte ich nicht die Möglichkeit, auch nur ein paar Worte mit Ihnen zu reden, und doch wurde in mir gleich beim ersten Blick der Wunsch wach, Sie näher kennenzulernen.«

Ich erwiderte sogleich, daß es mir ebenfalls eine Freude sei und so weiter, obwohl ich mich in der scheußlichsten Stimmung befand. Wir setzten uns.

»Was haben Sie denn da?« fragte er mit einem Blick auf das Blatt, das ich noch in der Hand hielt. »Doch nicht etwa Widopljassows Wehklagen? Wahrhaftig! Ich dachte es mir doch, daß Widopljassow auch Sie attackieren würde. Er hat auch mir ein ganz ebensolches Blatt mit denselben Wehklagen überreicht; Ihre Ankunft aber hat er schon längst erwartet und wahrscheinlich schon im voraus ein Exemplar für Sie hergestellt. Wundern Sie sich nicht darüber: es gibt hier viel Seltsames, und man findet hier wirklich viel Stoff zum Lachen.«

»Nur zum Lachen?«

»Na, etwa zum Weinen? Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen Widopljassows Biographie erzählen, und ich bin überzeugt, daß Sie darüber lachen werden.«

»Ich muß gestehen, ich habe jetzt andere Dinge im Kopf als Widopljassow«, antwortete ich ärgerlich.

Es war mir ganz klar, daß Herr Misintschikow, wenn er meine Bekanntschaft suchte und ein liebenswürdiges Gespräch mit mir anknüpfte, dabei irgendeinen Zweck verfolgte und mich ganz einfach brauchte. Vorhin hatte



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