Das Ende der Arbeiterklasse. Ein Familienroman by Aurélie Filippetti

Das Ende der Arbeiterklasse. Ein Familienroman by Aurélie Filippetti

Autor:Aurélie Filippetti [Filippetti, Aurélie]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104030821
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-05-29T16:00:00+00:00


Auf dem Schwarzweißfoto eine lustige Truppe in Schlaghosen, Miniröcken und kniehohen Stiefeln. Ein pausbäckiges Baby in weißem Spitzenkleidchen thront in der Mitte, während sich die Gäste auf den Treppenstufen verteilen, wie nach einer Messe. Es sind jedoch nicht die Stufen der Kirche, sondern die des Rathauses. Das steht in dicken Buchstaben über den Gästen geschrieben. Die Großmutter, die unten neben dem Vater steht, ist deshalb ganz mürrisch. Nimmt nur widerwillig an der heidnischen Zeremonie teil. Wenigstens hat er es nicht auf dem Zechenplatz gemacht … Wo hat er nur diese Idee her. Eine republikanische Taufe, pff … Das war für sie alle das erste Mal. Etwas ganz Neues auf der ersten Seite des Goldenen Buches. Seit 1793 schien sich niemand mehr daran zu erinnern, dass es so etwas gab. Seit hundertachtzig Jahren. Tief in ihrem Innern fragt sich die alte Italienerin, ob all das nicht die Gefahr birgt, dass die kleine Seele womöglich in der Hölle oder zumindest in der Vorhölle endet. Sie, die zwei Kinder verloren hat, meint, man könne mit der Religion nie vorsichtig genug sein. Ihr Sohn ist es, der sich verweigert. Testaccia. Nicht, dass man ihn nicht in die Kirche geschickt hätte, als er klein war, er war sogar Messdiener; weiße Handschuhe zur Kommunion. Doch später, in der Mine, haben es sich seine Kameraden nicht nehmen lassen, ihn an seinen kommunistischen Vater zu erinnern, seinen Vater, der in den Lagern umgekommen war. Zugegebenermaßen hat der Pfarrer ihn gegen sich aufgebracht, als er unablässig wiederholte, er müsse den Herren Respekt erweisen, dem Herrn Direktor und dem Herrn Bürgermeister, sogar dann noch, als der Herr Bürgermeister ihn geohrfeigt und ihn als kleinen dreckigen Itaker beschimpft hatte, weil er auf der Straße gespielt und mit seinem Ball das Kleid von Madame beschmutzt hatte. An diesem Tag hatte er Rache geschworen. Es war kurz nach Kriegsende, und alle wussten, dass diese Kleinen da die Töchter und Söhne der vierzehn deportierten Bergleute waren.

Schon zu seinen Lebzeiten hatte sie die Verantwortung für das geistliche Wohl der ganzen Familie auf sich genommen, das tat sie auch weiterhin. Einige Zeit nach der revolutionären Zeremonie, die sie im Stillen missbilligt hatte, weihte sie ihre jüngste Tochter in eine heimliche Aktion ein, mit der sie das Heil ihrer Enkelin gewährleisten wollte. Man hatte das Kind für einen Tag in ihre Obhut gegeben. Sie hüllten es sorgsam in ein hübsches weißes Laken, das sie mit einem schwarzen Tuch bedeckten. Sie holten den Kinderwagen des schlafenden kleinen Mädchens heraus und taten so, als wollten sie spazieren gehen. Draußen sprachen die Nachbarinnen sie an:

– Guglielma, come stai? E la bambolina, che carina!

– Na, man muss doch die letzten Sonnentage ausnutzen!

Als sie hinter der Kirche angekommen waren, prüften sie die parkenden Autos, um nicht unerwartet mit dem Vater des Kindes zusammenzutreffen, der sich vielleicht gleich nebenan im Rathaus zu einer Besprechung aufhielt. Keines sah nach seinem aus. Jetzt mussten sie nur noch die mitten auf der Grand-Rue gelegene Kirche betreten, ohne erkannt zu werden. Eine kleine Seitentür stand offen, und sie gingen hinein.



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