Das Dorf by Katrin Seddig

Das Dorf by Katrin Seddig

Autor:Katrin Seddig [Seddig, Katrin]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783644100497
Herausgeber: Rowohlt E-Book


Am Bach wachsen hohe Brennnesseln. Sie wachsen so hoch und so dicht, dass Jenny hier, an dieser Stelle, wo es zwischen der alten Schule und dem Nachbarhaus immer einen Durchschlupf gab, durch den Bach und auf die andere Seite hinüber, dass sie jetzt hier in Schwierigkeiten gerät. Früher haben sie am Bach gespielt. An einer sandigen Stelle taten sie so, als hätten sie einen Strand. Jetzt stehen überall Brennnesseln. Es ist schattig. Modriger Geruch liegt in der Luft, und über dem Wasser, das sie von hier aus nicht sehen kann, tanzen Mückenschwärme in der Luft. Jenny hält immer noch die Schuhe ihrer Mutter in der Hand. Sie braucht einen Stock und findet hinter der Schule einen Besen, dessen rote Borsten fast alle ausgefallen sind. Der Stiel ist morsch, das Holz verrottet. Sie legt die Schuhe ihrer Mutter ab, packt den Besen und schlägt die Brennnesseln nieder. Aber sie sind hart, sie lassen sich nicht niederschlagen. Schließlich drückt sie die widerspenstigen Brennnesseln zur Seite und stellt einen Fuß auf den Besenstiel. Sie beschwert ihn mit ein paar Steinen und betrachtet ihren Weg. Nur ein besenstiellanges Stück Weg über umgeknickte Brennnesseln. Sie zieht ihre Schuhe an, die Schuhe mit den hohen Absätzen, und steigt hinüber. Dann zieht sie den Besenstiel unter den Steinen hervor und schiebt die vor ihr liegenden Brennnesseln auseinander. Die hinter ihr schießen in die Höhe auf und verbrennen ihre Waden. So gelangt sie, wenn auch etwas verbrannt, an den Strand ihrer Kindheit, einer nur winzigen Ausbuchtung des Baches. Er ist hier breiter als an den anderen Stellen, aber auch flacher und sandiger.

Jenny zieht die Schuhe wieder aus und steigt ins Wasser. Es umspült ihre Füße, und sie watet tiefer in den Schlamm hinein. Früher ist sie oft durch den Bach nach Hause gegangen. Früher, als sie noch klein war. An manchen Stellen ist der Untergrund fest und sandig, an anderen schlammig und schmatzend. Es gibt steinige Stellen, es gibt Müll und Scherben. Man kann die Scherben nicht sehen, nur fühlen, und dann ist es schon zu spät. Es bleibt ihr nur zu hoffen, dass sie nicht in eine Scherbe tritt. Und vorsichtig laufen, vorsichtig die Füße vorfühlen lassen. So geht es. Über dem Kopf die Mücken, links und rechts die Erlen, Büsche, Brennnesseln, vereinzelt die gelben Blüten der Sumpfdotterblume. Dahinter die Grundstücke mit ihren Zäunen, Schuppen und Häuserwänden, einige Häuser stehen dicht am Bach, so wie die alte Schule.

Sie tapst durch das Wasser, und die Kälte an ihren Füßen macht ihr Freude. Die Schwarzerlen, die ein bisschen rauschen über ihrem Kopf, machen ihr Freude. Sogar das Brennen an ihren Waden. Hier, im Bach, sind alle anderen nicht da. Hier ist Maiks Mutter nicht da, hier sind ihre Tonfiguren nicht da, hier ist eine andere Welt. Aber da kommt ihr jemand entgegen. Es ist der Mann, der neu ins Dorf gezogen ist, mit den drei Kindern, der Geschäftsmann. Er hat die Hosen hochgekrempelt und läuft durch den Bach wie sie, gekleidet wie in einem Büro, nur dass die Hosen eben hochgekrempelt sind.



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