Das Bildnis des Dorian Gray by Oscar Wilde

Das Bildnis des Dorian Gray by Oscar Wilde

Autor:Oscar Wilde [Wilde, Oscar]
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: MOST Publishing


Zehntes Kapitel

Als sein Bedienter eintrat, blickte er ihm fest ins Auge und überlegte sich, ob es ihm wohl eingefallen sei, hinter den Schirm zu blicken. Der Mann stand da, ohne sich zu rühren, und wartete auf seine Befehle. Dorian zündete sich eine Zigarette an, schlenderte durchs Zimmer zum Spiegel und blickte hinein. Er konnte Viktors Gesicht völlig deutlich darin sehn. Es war wie eine ruhige Maske der Unterwürfigkeit. Da war nichts zu befürchten, da nicht. Aber er hielt es für das Beste, auf der Hut zu sein.

In sehr leisem Ton sagte er ihm, er solle die Wirtschafterin hereinrufen und dann zu dem Rahmenmacher gehn und ihn bitten, er möchte zwei seiner Leute gleich herüberschicken. Ihm schien, daß die Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, nach dem Wandschirm blickten. Oder bildete er sich das nur ein? Nach wenigen Augenblicken kam Frau Leaf in ihrem schwarzen Seidenkleid und mit altmodischen Zwirnhandschuhen an ihren verrunzelten Händen in das Bücherzimmer. Er verlangte den Schlüssel zum Schulzimmer von ihr.

»Das alte Schulzimmer, Herr Dorian?« rief sie aus. »Aber nein, das ist voller Staub. Ich muß es auskehren und in Ordnung bringen lassen, ehe Sie hinein können. Es ist nicht in dem Zustand, daß Sie es jetzt sehen können, gnädiger Herr, wahrhaftig nicht.«

»Es braucht nicht in Ordnung gebracht zu werden, Frau Leaf, ich brauche nur den Schlüssel.«

»Aber gnädiger Herr, Sie werden voller Spinnweben werden, wenn Sie hineingehn, es ist seit beinahe fünf Jahren nicht aufgemacht worden, seit Seine Gnaden gestorben sind.«

Er zuckte, als sein Großvater erwähnt wurde. Haß stieg in ihm auf, wenn er an ihn dachte. »Das macht nichts,« antwortete er. »Ich will das Zimmer nur sehn, weiter nichts. Gehen Sie mir den Schlüssel!«

»Hier ist er schon, gnädiger Herr,« sagte die alte Dame die mit zitterig unsichern Händen in ihrem Schlüsselbund gesucht hatte. »Hier ist der Schlüssel, er wird im Augenblick los sein. Aber Sie wollen sich doch nicht da drohen aufhalten, gnädiger Herr? Sie haben's hier so behaglich.«

»Nein, nein,« rief er ungeduldig. »Danke, Frau Leaf. Ich brauche weiter nichts.«

Sie verweilte noch einige Augenblicke und wollte über irgendeine Angelegenheit der Haushaltung ins Schwatzen kommen. Sie seufzte und sagte, sie solle alles machen, wie sie's fürs Beste hielte. Mit strahlendem Lächeln ging sie hinaus.

Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche und sah sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große Decke aus purpurnem Atlas, die schwer mit Gold gestickt war. Es war ein prachtvolles Stück venezianischer Arbeit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein Großvater in einem Kloster in der Nähe Bolognas gefunden hatte. Ja, die konnte er brauchen, um das Schrecknis damit zu verhüllen. Sie hatte vielleicht oft als Bahrtuch gedient. Jetzt sollte sie etwas bedecken, das eine Fäulnis eigener Art an sich hatte, eine schlimmere noch als die Fäulnis des Todes – etwas, das Ungeheuerliches gebären sollte und doch nie sterben würde. Was der Wurm für den Leichnam ist, das sollten seine Sünden dem gemalten Bildnis auf der Leinwand werden. Sie würden seine Schönheit Stück für Stück zerstören und seine Anmut zerfressen.



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