Das Artefakt by Andreas Brandhorst

Das Artefakt by Andreas Brandhorst

Autor:Andreas Brandhorst [Brandhorst, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-01-09T05:00:00+00:00


30

Heraklon, schien das Summen des Schiffes zu flüstern. Heraklon, dachte Rahil. Dort entschied sich die Zukunft der Menschheit. Dort lagen die Antworten auf seine Fragen.

Der Formspeicher des Shifters hatte eine Art Lounge geschaffen, mit einem breiten Panoramafenster, das einen ungewohnten Anblick bot. Es zeigte nicht den M-Raum mit seinen 10^500 Universen, von den menschlichen Sinnen wie Kugeln mit dem silbernen Glanz von Perlmutt wahrgenommen, sondern vertrautes All, schwarz und unendlich tief, darin Sterne und Nebel wie erstarrte Flammen. Aber nicht stationär, nicht statisch. Die Sterne bewegten sich und strichen vorbei, die näheren schneller als die weiter entfernten. Die Gase interstellarer Nebel huschten wie Wolkenfetzen einer planetaren Atmosphäre dahin. Einmal mehr bedauerte Rahil das Fehlen einer Rüstung. Auf seine gewöhnlichen, unverbesserten Sinne angewiesen, wusste er nicht, ob das, was ihm die Augen zeigten, tatsächlich der Realität entsprach.

Das galt nicht nur für die Aussicht, die das große Fenster bot, sondern auch für den Mann, der dort im Sessel saß: entspannt zurückgelehnt, die Fingerspitzen aneinandergedrückt, in der schwarzen Uniform mit den silbernen Schulterspangen nicht eine Falte zu viel. Zwei der zehn Gardisten, die mit Coltan Jaqiello Tennerit an Bord gekommen waren, standen rechts und links neben der Tür, und gelegentlich warfen sie misstrauische Blicke in Richtung Sammaccan, der sich in einer Ecke des Raums auf einer Liege ausgestreckt hatte und schlief. Die Wächter wären gar nicht nötig gewesen, musste sich Rahil eingestehen. Sein Vater trug nicht nur eine Rüstung, sondern auch Femtomaschinen in seinem Körper – die kleinen Interfacemodule im rechten Ohr und am Nacken boten einen deutlichen Hinweis und verrieten einen technischen Standard, wie er vor dreißig oder vierzig Jahren bei der Ägide üblich gewesen war. Bedeutete das, dass sich die Unterstützung durch die Hohen Mächte in Grenzen hielt?

Rahils Femtomaschinen funktionierten noch immer nicht, obwohl der Ascar längst das Schiff verlassen hatte, um den Eisschrein auf Caina zu besuchen und sich dort vermutlich einen neuen Ekdysis-Kokon zu spinnen. Das Interdiktionsfeld existierte nach wie vor, und vermutlich wurde es jetzt von seinem Vater kontrolliert.

»Der Shifter wird von einem IKV gezogen«, sagte Rahil schließlich. »Wir sehen das All, aber wir sind nicht Teil davon. Wir befinden uns in der Blase eines Kontinuumschiffs.«

»Eigentlich bewegen wir uns gar nicht«, sagte Coltan. »Das IKV verändert nur unsere Bezugskoordinaten.«

Rahil fragte sich, ob sein Vater verstand, was er sagte. »Was bedeutet dies alles?«

Coltan wölbte die Brauen. »Das ist alles? Fast hundert Jahre sind vergangen, seitdem du deinen Vater zum letzten Mal gesehen hast, und du fragst nur, was dies zu bedeuten hat? Freust du dich nicht, mich wiederzusehen?«

»Du müsstest längst tot sein.«

»Ich bin tot gewesen und wiederauferstanden, wie du.«

»Wer steckt dahinter?«, fragte Rahil. Er stand noch immer am Fenster, den Sternen nahe und gleichzeitig durch mehr von ihnen getrennt als nur durch Distanz. Derzeit war er nicht mehr Teil des Universums dort draußen. »Vielleicht jene Stimme, die ich damals im alten Verlies gehört habe, nachdem du den Gefangenen umgebracht hattest.«

Coltan runzelte die Stirn. »Was?«

»Helles Licht kam, und dann erklang die Stimme, übersetzt von einem Interpreter. Du hast den Fremden ›Exzellenz‹ genannt.



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