Das 5. Buch Des Blutes by Clive Barker

Das 5. Buch Des Blutes by Clive Barker

Autor:Clive Barker [Barker, Clive]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-06-20T16:00:00+00:00


Bables Kinder

Weshalb konnte Vanessa einer Straße, die nicht durch einen Wegweiser ausgeschildert war, nie widerstehen? Nie dem Weg, der Gott weiß wohin führte? Begeistert war sie immer schon der Nase nach gegangen, und das hatte sie in der Vergangenheit oft genug in Schwierigkeiten gebracht. Eine verirrt in den Alpen zugebrachte Nacht mit beinah tödlichem Ausgang; jene Episode in Marrakesch, die fast mit einer Vergewaltigung endete; das Abenteuer mit dem Schwertschluckerlehrling im Dickicht von Lower Manhattan. Und trotz allem, was bittere Erfahrung sie hätte lehren sollen: Wenn sie die Wahl hatte zwischen einer beschilderten und einer unbeschilderten Straße, entschied sie sich stets, da gab es keine Frage, für die letztere.

Hier zum Beispiel. Diese Straße, die sich zur Küste von Kithnos schlängelte: Was hatte sie wohl schon zu bieten, außer einer ereignislosen Fahrt durch das gestrüppbewachsene Gelände hier in dieser Gegend – unterwegs eventuell die Begegnung mit einer Ziege – und von den Klippen eine Aussicht auf die blaue Ägäis. Eine solche Aussicht konnte sie von ihrem Hotel in der Merikha-Bucht aus genießen und brauchte dabei nicht einmal unbedingt aus dem Bett zu steigen. Aber die anderen Landstraßen, die von dieser Kreuzung wegführten, waren so eindeutig ausgeschildert: eine nach Loutra mit seiner verfallenen venezianischen Feste, die andere nach Driopis. Sie hatte keines der beiden Dörfer besucht, die angeblich ganz reizend waren, aber die Tatsache, daß sie so eindeutig beim Namen genannt wurden, beeinträchtigte ihre Anziehungskraft für Vanessa erheblich. Diese andere Straße hingegen, mochte sie auch nirgendwohin führen – und wahrscheinlich war das auch der Fall –, führte zumindest zu einem namenlosen Nirgendwo. Das war keine geringe Empfehlung. Und so setzte Vanessa aus reinem Spleen auf ihr die Fahrt fort.

Die Landschaft beiderseits der Straße (oder, wozu sie sehr schnell wurde, des Weges) war bestenfalls mittelprächtig. Selbst die Ziegen, die Vanessa erwartet hatte, waren nirgends zu sehen; aber schließlich wirkte die spärliche Vegetation auch alles andere als nahrhaft. Die Insel war kein Paradies. Im Unterschied zu Santorin mit seinem pittoresken Vulkan oder Mykonos – dem Sodom der Kykladen – mit seinen feudalen Stränden und noch feudaleren Hotels hatte Kithnos keinerlei touristische Attraktionen vorzuweisen. Eben deswegen war sie hier; so weit weg von den Massen, wie es ihr nur möglich gewesen war. Dieser Weg würde sie zweifellos noch weiter von ihnen entfernen.

Der von den Hügeln zu ihrer Linken ertönende Schrei war nicht zu ignorieren. Es war ein Schrei nackter Angst, und er war unüberhörbar trotz des Gebrumms ihres Mietwagens. Sie brachte das altertümliche Fahrzeug zum Stehen und stellte den Motor ab. Und wieder erschallte der Schrei, gefolgt von einem Schuß, einer Pause, dann einem zweiten Schuß. Ohne nachzudenken, öffnete sie die Wagentür und stieg aus. Die Luft duftete nach Sandlilien und wildem Thymian – Gerüche, die der Benzingestank im Wageninneren erfolgreich überdeckt hatte. Noch während sie den Wohlgeruch einatmete, hörte sie einen dritten Schuß, und diesmal sah sie, wie eine Gestalt – zu weit von ihr entfernt, um erkennbar zu sein, selbst wenn es ihr eigener Mann gewesen wäre – die Spitze eines der Hügel erklomm, nur um wieder in einer Mulde zu verschwinden.



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