Crossover by Fred Ink
Autor:Fred Ink [Ink, Fred]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-02-07T05:00:00+00:00
21
Harald fühlte jede Sekunde eines langen Lebens auf seinen Schultern lasten. Es schien keinen Quadratzentimeter Haut, nicht eine Muskelfaser in seinem Körper zu geben, die nicht schmerzte. Er ächzte und stöhnte bei jeder Stufe.
Und er kam beschämend langsam voran. Stockend, gebrechlich anmutend.
Wie ein alter Knacker eben.
Was da vorhin geschehen war, dieser aus der Not geborene Energieschub … er hatte seine letzten Kraftreserven aufgebraucht. Nun schien nichts mehr übrig zu sein außer einem dehydrierten, mit fleckiger Haut bespannten Gerippe, in dem ein Klumpen aus Nervenzellen erfolglos versuchte, Befehle zu geben.
BEFREIE MICH.
Schon wieder diese Stimme! Was …
Er sah sich um. Niemand zu sehen. Offensichtlich wurde er ein Opfer seiner überanstrengten Sinne.
Er sehnte sich nach einem Nickerchen. Und obwohl er sich in einem Abschnitt des Lebens befand, in dem die Aufnahme von Nahrung oder Flüssigkeit immer mehr zur Nebensache wurde, knurrte sein Magen. Die Zunge klebte geschwollen am Gaumen. Ihm wurde klar, dass er seit seinem Erwachen nichts zu sich genommen hatte, und allmählich machte ihm der Elektrolytmangel Probleme.
Seine Frau fehlte ihm. Wie sehr er sie vermisste! Erinnerungen flammten auf, als er an Utta dachte. Sie war nun schon so lange nicht mehr Teil seines Lebens, dass er manchmal vergaß, wie sie ausgesehen hatte. Dann griff er zu dem gerahmten Foto auf dem Nachttisch, von dem ihn ein frisch verheiratetes Pärchen anlächelte, und es zerriss ihm beinahe das Herz. Seit Utta an einem anderen Ort war, hatte das Leben für Harald seinen Reiz verloren.
Seine Verbitterung wurde mehr vom Verlust als vom Alter hervorgerufen. Utta war seine Seelenverwandte gewesen, das Yin zu seinem Yang. Daran glaubte er felsenfest, obwohl der Wissenschaftler in ihm nichts von romantischem Firlefanz wissen wollte. Sie war ihm genommen worden und heute vermisste er sie mehr denn je. Aber er würde sie wiedersehen. Eines Tages, wenn die Zeit gekommen war.
Ich jammere, beschwere mich, denke über alle möglichen Zipperlein nach, dachte er und bewältigte eine weitere Stufe. Wie passend.
Ein heiseres Lachen entfuhr ihm und verwandelte sich rasch in einen Hustenanfall. Der Staub hatte sich noch nicht gelegt. Harald konnte nur hoffen, dass die Treppe trotz des Angriffs des Riesenkrebses bis ins Erdgeschoss begehbar war.
»Warten Sie«, rief ihm eine weibliche Stimme hinterher, dicht gefolgt von: »Genau, Mann. Wir kommen mit!«
Haralds Knöchel knackten. Er musste die Golding nur hören, um aggressiv zu werden. Rote Schlieren traten in sein Blickfeld. Er hätte sie vorhin vom Dach stoßen sollen!
Pfeif auf den Jungen! Soll er doch sehen, wo er bleibt, der blöde Bengel! Es wäre eine solche Genugtuung gewesen, ihren Schädel auf dem Boden zerplatzen zu sehen wie eine überreife Melone. Alle Reizwäsche der Welt hätte sie dann nicht mehr attraktiv wirken lassen. Ihr gehässiges Mundwerk hätte für immer still gestanden.
Harald stellte fest, dass ihm ein Speicheltropfen aus dem Mund floss. Er wischte ihn weg, ebenso wie das Lächeln, das sich auf sein Gesicht gestohlen hatte.
Was denke ich da bloß?, durchfuhr es ihn. So bin ich doch sonst nicht.
Unter dem Verband an seinem Bein juckte es. Er kratzte sich geistesabwesend, bis Tom und Frau Golding zu ihm aufgeschlossen hatten.
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