Colonia - Roman einer Stadt by emons Verlag

Colonia - Roman einer Stadt by emons Verlag

Autor:emons Verlag
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 9783863581992
Herausgeber: Emons Verlag
veröffentlicht: 2014-06-15T22:00:00+00:00


25. HEXENWERK

ICH KANN MICH SELBSTVERSTÄNDLICH auch irren. Aber der Mann, den ich im Abendlicht durch den Schlafsaal der Mönche am Westchor des Domes hasten sah, musste Erzbischof Anno II. gewesen sein. Er war verkleidet gewesen und hatte wie ein Anführer der Stadtwache ausgesehen. Als ich genauer hinsehen wollte, war er unter den nördlichen Arkaden des Atriumsvorplatzes verschwunden und in eines der Häuser zwischen dem Domvorplatz und der alten Römermauer gelaufen, das von den Kanonikern bewohnt wurde.

Ich könnte mich heute noch dafür ohrfeigen, dass ich nicht sofort losgebrüllt habe. Was anschließend passiert ist, wäre ungeschehen geblieben, wenn ich mir für diesen Augenblick etwas mehr von meinem Zorn und meinem Ärger aufbewahrt hätte. Aber mir ging es zu sehr darum, die von mir bezahlten Mauersteine an der runden Westfassade des großen Doms von Cölln zu schützen. Ich hatte Steine, Türmchen und Arkaden im Sinn und nicht die Folgen, die sich durch die Flucht des herrschsüchtigen Erzbischofs für die ganze Stadt ergaben …

Er entkam durch ein kleines Törchen in der alten Römermauer, das erst kurz zuvor ausgebrochen worden war. Drei Tage lang jubelte die ganze Stadt und feierte den ersten Sieg der Bürger über einen verhassten Kirchenfürsten. Aber noch war die Gefahr nicht gebannt. Es hieß, dass der Erzbischof bis nach Neuss entkommen war. In diesen Tagen fand ich kaum noch Schlaf. Wieder und wieder musste ich auf die Männer einreden und sie daran erinnern, dass wir uns in unserem Zorn selbst in die allergrößte Gefahr gebracht hatten. Völlig unverständlich für mich, war Ursa diejenige, die die Aufrührer immer weiter bestärkte.

Erst jetzt erfuhr ich, dass es viele Verletzte und sogar Tote unter den Priestern und den Aufständischen gegeben hatte. Ursa ließ sich zusammen mit einigen anderen Weibern auf einem zweirädrigen Karren immer wieder durch die Rheinvorstadt fahren. Sie kam nicht mehr in unser Haus zurück. Ich wollte sie bereits suchen gehen. Als mir das erste Kerzenlicht des Abends gebracht wurde, sah ich den kleinen Lederstreifen an dem Platz, an dem ich immer saß. Es war ein fingerlanges Stück, wie es Reliquienknochen oft als sogenannte Authentik trugen. Normalerweise standen auf den Lederstreifen die Namen irgendeines Heiligen oder einer der elftausend Jungfrauen. Auf diesem Lederstück stand ein Hinweis, den nur ich verstand:

»Ich sterbe. Ursa …«

Mehr nicht. Nur diese drei Worte. Ich brauchte einige Minuten, bis mir klar wurde, was das bedeutete. Ich hatte nicht gesehen, ob sie verletzt war, hatte nichts von einer Krankheit oder Schwäche an ihr bemerkt. Ich war sicher, dass kein Mensch seinen eigenen Tod genau vorauszusehen vermag. Aber ich hatte auch schon einmal gehört, dass es Menschen geben sollte, die von einem Augenblick zum anderen sterben konnten – nur weil sie es wollten …

Auch der Stadtvogt und einige der Nonnen von Maria im Kapitol kamen den Gerüchten nach in diesen Tagen ums Leben. Aber genau drei Tage nach der Flucht des Erzbischofs brachen der Jubel und die Anarchie in den Straßen in sich zusammen. Wilden Gelagen und wie besessenen Tänzen der Männer und Frauen in den Gassen folgte abrupt und eiskalt die Ernüchterung.



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