Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn by Carl Sternheim

Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn by Carl Sternheim

Autor:Carl Sternheim [Sternheim, Carl]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erzählungen
Herausgeber: Aufbau
veröffentlicht: 1962-12-31T23:00:00+00:00


Angst vor den Nachbarn war tot. Von hinten her stellte er sich ihre Auftritte, gestelzte Ritterschläge, Dolchstöße, Herzbeteuerungen wieder vor; geschwollenes Gewäsch in schlechtem Deutsch, und kicherte lange vor sich hin, um dann eine Mahlzeit, die sich gewaschen hatte, aufzusetzen. Den Dichter, den die beiden gemimt hatten, kannte er nicht; doch schien ihm, je länger er quirlend und rührend nachdachte, die Tatsache um so widerwärtiger, jemand sollte ein Recht haben, an sich ausgesucht albernes Zeug so hochtrabender Sprache unter heutigen Umständen dem Publikum vorzutragen, es von dringenden Dingen zu seinem Schwachsinn zu führen. Über der Komödianten Strafbarkeit, die sich zu solcher Verrücktheiten Verkündern machten, gab es keinen Zweifel. Ihre Naivität und Kritiklosigkeit war strafverschärfend. Schuldig aber waren Obrigkeit und Bühnenvorstände mit ihnen, die den romantischen Daseinsfälschern eine Existenz ermöglichten, statt, daß sie durch Hunger schneller verreckten, Sorge zu tragen. Unwiderstehlich reizte ihn der angehörten Versreihen Verlogenheit, saftige Gemeinheiten in die Luft zu sprengen. Doch wie er Zunge, Lippen wölbte, Nase vorkrümmte, Augen auf Stiele schob, das Wort, brutal genug, quellendem Ekel in ihm zu entsprechen, kam nicht zu Hilfe.

Seit Jahrhunderten wurden so Völker verblödet. Vor größtem Nonsens stand dem Pöbel, wurde er gereimt, gebundener Sprache vorgetragen, die Schnauze still. Gierig, diesen Galimathias zu schlucken, wissenschaftliches, historisches Blech, Entstelltes, Erlogenes, Hypothetisches aus tausend Vorstellungsgebieten zu schlürfen, übersah er seine körperliche Aufzucht.

War es dagegen nicht ästhetisches Vergnügen, in Ställen Kühe, Ziegen, ja das Schwein methodisch gemanschten Brei schmatzen zu sehen, mit welch gliederfrischendem Behagen die Zunge Tränke durchfischte, Lippenwülste letzten, wobei den Tieren im Blick mystische Wollust stand? Und welch Verdauen hub nach dem Fressen an! Zurück in die Maulhöhle spie das Genossene sich das Rind, inbrünstiger bereit, Materie zu des eigenen Leibes Vorteil im Pansen, in der Haube, Psalter und Labmagen noch viermal nach letzten Möglichkeiten zu durchwühlen.

Über diese Einbildung vergaß Posinsky seinen frischen Grimm und, des Wiederkäuens Vorstellung hingesunken, vergewaltigte ihn Neid mit dem bevorzugten Rindvieh. Aus solcher Bilder innig geschauter Wirklichkeit erstand am Ende noch größer in ihm der Haß gegen des Lebens schminkende Prinzipien.

Über Hemmungen griff er auf dies Urgefühl in sich jetzt sicher durch: Rache an den Mördern triebhafter Ursprünglichkeit im Menschen! Auf gegen der Begriffsklempner Gezücht, den Homo sapiens, die spekulativ transzendentalen Geister. Auf den Mist, zum Kehricht mit ihnen! Hier ist Erde, hier Paradies! Aus Sonnenwärme und reichlicher Speise hüpfen Blutzellen, gebären sich der Chromosomen Wunder. Ganze Völker gibt es, die liegen im Sand und pfeifen auf Bambusrohr.

Aus solchen Gründen waren die Nachbarn ihm keine persönlichen Feinde mehr, doch Glaubensgegner, auf die er seines Grolles Unmaß mit tiefster Überzeugung richten konnte. Drangen jetzt Verse, mit denen triebfrisch der Jüngling nach dem vor ihm aufgebauten jungen Weib griff, zu ihm herüber, verbot ihm dies mit Hinblick auf allgemeine Vorschriften oder Sonderwünsche seine leiseste Berührung rief es:

»Elisabeth war Ihre erste Liebe. Ihre zweite

Sei Spanien. Wie gerne, guter Karl,

Will ich der besseren Geliebten weichen.«

und der gute Karl erwiderte spornstreichs und (von Empfindung überwältigt, zu ihren Füßen) ohne nur den Versuch zu machen, die Akte hindurch Angeschwärmte zu seinen plausiblen Wünschen zu zwingen:

»Wie groß sind Sie, o Himmlische.



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