Christian Morgenstern. Wende und Aufbruch unseres Jahrhunderts by Friedrich Hiebel

Christian Morgenstern. Wende und Aufbruch unseres Jahrhunderts by Friedrich Hiebel

Autor:Friedrich Hiebel [Hiebel, Friedrich]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105614013
Herausgeber: FISCHER Digital
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


IX.

Christian Morgensterns Parzivalpfad

Der Morgen war von über sanftem Schmelz,

der harte Berg war nicht mehr Stein und Krume,

der Wald wie purpurbrauner Falter Pelz –

und drüber quoll des Weltraums blaue Blume

aus ewigem Kelch ihr tiefstes Ja und Amen …

Und vor dem allen stand im jungen Strahl

ein Mensch und nahm dies heilige Morgenmahl

Dir zum Gedächtnis und in Deinem Namen.

Dieses Gedicht schickte Morgenstern im Herbst 1908 Margareta, der künftigen Lebensgefährtin, der es «von der ersten bis zur letzten Zeile gehört». Durchpulst war es von einer noch unbewußten Parzivalstimmung. Es kündete vom Jubel einer Erfüllung, die mit doppelter Begnadung die Einsamkeit des Siebenunddreißigjährigen erhellte und ihm den Herzensweg zur geliebten Frau bahnen sollte, mit der er gemeinsam die Welt Rudolf Steiners zu suchen beschloß.

Vor dem Biographen steht bei der Beschreibung dieser Dichterentwicklung die Frage an das Schicksalsrätsel: warum war es möglich, daß sich bei der räumlichen Nachbarschaft während eines ganzen Berliner Jahrzehntes die Bahn Morgensterns nicht viel früher mit dem Lebensgang Steiners kreuzte, da sich doch die innerliche Urverwandtschaft der Seelensuche und der Geisteshaltung mit überwältigender Beweiskraft ergibt?

Die Idee der wiederholten Erdenleben ging schon dem Achtzehnjährigen ahnungsvoll auf, bevor von Steiner darüber Veröffentlichungen vorlagen. Sein erstes Gedichtbuch erschien im gleichen Jahr mit Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit, dem «Geist Friedrich Nietzsches» gewidmet. Kurz nachher erschien Steiners Buch Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit. «Nietzsche, die große Antithese seiner Zeit» – so hieß es in einem Aperçu bei Morgenstern, der Steiners Buch damals wohl kaum in die Hände bekam. Während Steiner einen Aufsatz über «Nietzscheanismus» schrieb, in welchem es hieß, daß ihm Nietzsche als «Dichter der modernen Weltanschauung … nie ein philosophisches, sondern immer ein psychologisches Problem» geblieben, betrachtete Morgenstern völlig unabhängig: «Einen leidenschaftlichen Wegsucher wie Nietzsche begreift man nicht bloß als kluger Kopf; man muß ihm noch obendrein ein bißchen verwandt sein.» Bis zur Jahrhundertwende rangen beide Geister in aller Intensität mit Nietzsche, bis es Morgenstern aufging, «daß Nietzsche überall da versagt, wo er sich bewußt oder unbewußt der Eitelkeit seines Geistes hingegeben hat», und Steiner seine abschließenden Studien über ihn als psychopathologisches Problem schrieb.

Zur gleichen Zeit, als Morgenstern die Versdramen und Gedichte Ibsens übersetzte und (Anfang 1898) den Meister des modernen Dramas in Norwegen selber besuchte, hielt Rudolf Steiner in Berlin innerhalb der Freien Literarischen Gesellschaft Vorträge über die «Bedeutung Ibsens und Nietzsches für das moderne Geistesleben». Er erkannte in Ibsen die Grenzen eines bloß Fragenden, eines Baumeisters, «der die Türme baut … den aber Schwindel befällt, wenn er selbst auf den Gipfel dieser Türme stehen soll».

Morgenstern schrieb schon vor seiner Begegnung mit Ibsen, daß der Naturalismus «nur ein Studium, kein Ziel» sei und daß «das naturalistische Drama nur dann Wert hat, wenn es den Menschen, so wie er heute ist, sich selbst unerträglich macht». Er nannte Ibsen im Gegensatz zum Adler Goethe «die Eule in Person», und 1904 konnte er schließlich schreiben: «Den Tag im Hausbuch rot gemacht/da ich Dich endlich überdacht.»

Seit 1894 wohnte Morgenstern in Berlin, der Hauptstadt, die drei Jahre später auch für Steiners nächste zwei Jahrzehnte zum Mittelpunkt seines Wirkens wurde.



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