Canetti, Elias - Autobiographie 01 - Die gerettete Zunge by Geschichte einer Jugend

Canetti, Elias - Autobiographie 01 - Die gerettete Zunge by Geschichte einer Jugend

Autor:Geschichte einer Jugend
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 2014-05-25T22:00:00+00:00


Spionage

Es war eine kleine Wohnung im zweiten Stock der Scheuchzerstraße 73, in der wir lebten. Ich habe nur drei Zimmer in Erinnerung, in denen wir uns bewegten: aber es muß auch ein schmäleres, viertes Zimmer gegeben haben, da einmal für kurz ein Mädchen bei uns war.

Doch ging es schwer mit Mädchen. Die Mutter konnte sich nicht daran gewöhnen, daß es hier keine Dienstmädchen wie in Wien gab. Ein Dienstmädchen hieß hier Haustochter und aß mit an unserem Tisch. Das war die erste Bedingung, die ein Mädchen stellte, wenn es eintrat. Die Mutter, in ihrer hochfahrenden Art, fand das unerträglich. Sie hatte ihre Mädchen in Wien, wie sie sagte, immer gut behandelt, aber sie lebten in ihrer eigenen Kammer, die wir nie betraten, und aßen für sich in der Küche. »Gnä’ Frau« war die selbstverständliche Anrede. Hier in Zürich war es aus mit der gnä’ Frau, und die Mutter, die die Schweiz wegen der Friedensgesinnung des Landes so sehr mochte, konnte sich mit den demokratischen Sitten, die bis in ihren engsten Haushalt eingriffen, nicht abfinden. Sie versuchte es bei Tisch mit englisch und begründete den Gebrauch dieser Sprache vor Hedi, der Haustochter, damit, daß die beiden Kleinen es allmählich vergäßen. Es sei notwendig, daß sie es wenigstens bei den Mahlzeiten wieder auffrischten. Das war zwar die Wahrheit, aber es diente auch als Ausrede, um die Haustochter von unseren Gesprächen auszuschließen. Sie schwieg, als ihr das erklärt wurde, aber sie schien nicht beleidigt. Sie schwieg sogar ein paar Tage, aber wie staunte die Mutter, als Hedi eines Mittags einen Fehler, den Georg, der Kleinste, in einem englischen Satze machte und den die Mutter passieren ließ, selber mit unschuldiger Miene ausbesserte! »Wieso wissen Sie das?« fragte sie beinahe empört, »können Sie denn englisch?« Hedi hatte es in der Schule gelernt und verstand alles, was wir sagten. »Sie ist eine Spionin!« sagte die Mutter später zu mir, »sie hat sich eingeschlichen! Das gibt es nicht, daß ein Dienstmädchen englisch kann! Warum hat sie’s nicht früher gesagt? Sie hat uns belauscht, diese elende Person! Ich laß meine Kinder nicht an einem Tisch mit einer Spionin zusammensitzen!« Und nun erinnerte sie sich daran, daß Hedi nicht allein zu uns gekommen war. Sie war mit einem Herrn erschienen, der sich als ihr Vater vorgestellt hatte, der uns und die Wohnung in Augenschein nahm und sich sehr genau nach den Arbeitsbedingungen seiner Tochter erkundigt hatte. »Ich habe mir gleich gedacht, das kann nicht der Vater sein. Er sah aus wie aus guter Familie. Er hat mich ausgefragt, als ob ich eine Stelle suche! Ich hätte an seiner Stelle nicht strenger fragen können. Aber der Vater eines Dienstmädchens war das nicht. Sie haben uns eine Spionin ins Haus gesetzt.«

Es gab zwar überhaupt nichts bei uns zu spionieren, aber das störte sie nicht, sie maß uns auf alle Fälle eine Bedeutung bei, die Spionage gerechtfertigt hätte. Umsichtig traf sie ihre Gegenmaßnahmen. »Wir können sie nicht gleich entlassen, das würde auffallen. Wir müssen sie noch 14 Tage dulden. Aber wir müssen aufpassen.



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