Bruderschatten by Mika Bechtheim

Bruderschatten by Mika Bechtheim

Autor:Mika Bechtheim [Bechtheim, Mika]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Random House DE
veröffentlicht: 2012-10-15T22:00:00+00:00


30

Es gibt Sätze, die einschlagen wie ein Splittergeschoss. Jan hatte meinen Bruder identifiziert? Leo war in Solthaven? Er hatte getötet? Vor Zeugen? Vor einem Kind?

Ich stand reglos neben meinem Auto. Lauren und Hinner waren bereits im Haus verschwunden, Jan saß auf der Treppe und schnürte seine gelben Stiefel auf. Er sah noch einmal zu mir. Ich winkte ihm zu, lächelte und wusste, dass mir die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben stand. Er lächelte nicht zurück. Er setzte die Kappe des einen Stiefels an die Ferse des anderen und streifte ihn ab. Ich stieg ins Auto und legte einen Moment den Kopf aufs Lenkrad. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich warf noch einen Blick auf Hinners Haus.

Jan hatte sich die Schuhe wieder angezogen und stolperte auf seinen Krücken und mit offenen Schuhbändern hastig die Stufen herunter.

Lauren öffnete hinter ihm das Fenster und rief: »Komm zurück, Jan. Wir wollen essen!«

Der Junge humpelte weiter.

»Jan!«

Hinner riss die Tür auf und polterte in dicken Boots wütend hinterher.

Jan kam über die Straße aufgeregt auf mein Auto zugehinkt und schüttelte heftig den Kopf.

»Hast du deine Mutter nicht gehört?«, brüllte Hinner. »Du kommst sofort wieder rein!«

Ich begriff nicht, was Jan wollte. »Soll ich Max etwas ausrichten?«

Kopfschütteln.

»Jan!«, brüllte Hinner gefährlich nah.

»Möchtest du mitkommen?«

Kopfschütteln.

»Was willst du?«

Er zeigte wieder auf sich und schüttelte noch heftiger mit dem Kopf.

Hinner hatte ihn erreicht.

»Du wirst jetzt endlich tun, was man dir sagt, Bürschchen«, sagte er. »Meine Güte«, keuchte er, »sind Jungs in dem Alter alle so?«

Ich nickte.

Er schnappte sich Jan und nahm ihn auf den Arm wie einen Zweijährigen. Er klemmte die Krücken unter den anderen Arm und ging grußlos ins Haus zurück.

Aufgewühlt fuhr ich die paar Meter bis zu unserem Haus.

In der warmen Küche schälte mein Vater Mohrrüben. Ich sah nach Max. Er lag auf dem Fußboden in Leos Zimmer, vertieft in einen alten »X-Men«-Comic.

»Cool«, sagte er und hielt das Heft hoch. Ich nickte, während er mich schon wieder vergessen hatte und weiterlas.

Ich erinnerte mich daran, wie meine Großmutter die Comics nach ihren Besuchen im Westen durch die Grenzkontrollen geschmuggelt hatte. In hüfthohen Miederhosen saß sie drei Stunden lang kerzengerade im Zug, damit das Papier nicht verdächtig raschelte. Danach lag sie regelmäßig mit einer Wärmflasche im Rücken auf der Couch und stöhnte über ihr schmerzendes Kreuz.

Wieder in der Küche schenkte ich mir einen abgestandenen Kaffee mit reichlich Milch ein und setzte mich an den Tisch.

Ich erzählte meinem Vater von meinem Gespräch mit Carsten Unruh, während er weiter eine Mohrrübe nach der anderen schälte und in Scheibchen schnitt. Er wirkte müde, und ich sah ihm an, dass er von der Geschichte nichts mehr hören wollte.

Auf dem Küchentisch lag die Zeitung von heute. Mein Blick fiel auf den Lokalteil. Ich nahm ihn und blätterte ihn durch auf der Suche nach einem Artikel über den Mord an Nora Schnitter. Ich fand ihn auf Seite vier. Ein Unbekannter hätte Freitagmittag in Christa Heineckens Scheune aus unbekannten Gründen eine junge Frau erschossen. Christa wurde von ihrem Sohn Hinner gefesselt auf einem Stuhl in ihrem Haus gefunden. Sie stünde noch unter Schock und wäre im Krankenhaus.



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