Boris und Olga (B00R1YDBHM) by Selma J. Spieweg

Boris und Olga (B00R1YDBHM) by Selma J. Spieweg

Autor:Selma J. Spieweg [Spieweg, Selma J.]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: neobooks Self-Publishing
veröffentlicht: 2015-01-17T05:00:00+00:00


Olga

Olga hatte noch nie einen Zar weinen sehen, was nicht weiter verwunderte, aber sie hätte sich auch nie vorstellen können, dass Zaren so etwas taten. Warum hätte ein Zar auch unglücklich sein sollen? Der konnte machen, was er wollte, und das war in der Regel, ungestraft gemein zu sein und Soldaten loszuschicken, um Bauern und Freiheitskämpfer umzubringen. Dieser Zar hatte seinen Thorn verloren, ihr war klar, dass ihm das überhaupt nicht passte, und es wäre ein Grund zum Heulen, doch deswegen weinte er eindeutig nicht. Er hatte Angst um seine Frau. Beinahe so, als wäre er ein ganz normaler Mensch. Er weinte, wie Bauern weinten, wenn ihre Kinder verhungerten oder ihre Ehegatten starben. Ja, er weinte, so wie sie Rotz und Wasser geheult hatte, als sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre Freunde, ihre Ersatzfamilie, von Soldaten umgebracht worden waren. Was sie nicht verstand, war: Wenn er wusste, wie sich das anfühlte, wie konnte er dann so gemein sein? Olga war bisher der Überzeugung gewesen, wer anderen wehtat, besaß keine Gefühle. Olga sah zu Boris. Auch er hatte anderen wehgetan, daran ließ sich nicht rütteln, sie war nicht so naiv, wie Graf sie darstellte. Er hatte bestimmt all das gemacht, was alle anderen Soldaten auch machten, ein schrecklicher Gedanke, den sie lieber ganz schnell beiseiteschob. Das war früher gewesen. Bevor er sie getroffen hatte. Jetzt wusste er, wie es ist, wenn jemand einen gern hat und wenn man selbst auch jemanden gern hat. Olga schoss das Blut in die Wangen, und sie versteckte hastig ihr Gesicht hinter dem Kragen des alten Mantels. Sie empfand es als unverschämt, von sich selbst so positiv zu denken und die Schlussfolgerung, dass Boris sie gern haben müsse, weil er jetzt nett war, war ebenfalls peinlich. Wundervoll – aber peinlich. Ein weiterer Gedanke verstärkte ihre Verlegenheit. Nikolaus II war jetzt auch viel netter als zu Beginn ihrer Bekanntschaft. Bringt das Mädchen um, hatte er schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gefordert. Lag das vielleicht auch an ihrem Einfluss? Und wenn er jetzt netter war und wusste, wie schrecklich es sich anfühlte, wenn man Angst um geliebte Menschen hatte, wäre es vielleicht nicht das Schlechteste, wenn er seinen Thron zurückbekäme. Er würde bestimmt ein besserer Zar sein als vorher.

»Es geht ihr bestimmt gut«, machte sie den Versuch, ihn zu trösten. »Sie tun ihr bestimmt nichts, oder …?« Oder war es vielleicht schon zu spät? Als Zar wusste er ja, wie leicht es manchen fiel, andere zu massakrieren.

»Äh, ich glaube nicht …«, sagte Lew.

»Oder … oder glaubst du etwa … sie …« In diesem Moment tat ihr Nikolaus II einfach nur leid. »Oder glaubst du, sie haben sie umgebracht?«

»Tod der Zarin, was? Das könnte dir so passen!«, schrie Nikolaus II sie an. Seine rot geschwollenen Augen blitzten böse.

»Das … das meine ich doch gar nicht.« Olga gab sich Mühe, diesem Zornesausbruch nicht mehr Bedeutung beizumessen, als ihm gebührte. Er hatte Angst, war verzweifelt und wusste, dass er keine Chance hatte, seine Frau zu retten, wenn sie noch am Leben sein sollte.



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