Blauer Schnee by Piotr Bednarski
Autor:Piotr Bednarski
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2010-10-06T20:03:49.328000+00:00
Seit zwanzig Jahren breitet sich ein roter Nebel aus. Er sinkt auf alles nieder und wird zu einem Gitter. Doch ich entreiÃe euch den roten Sternen und von dem roten Magma spreche ich euch frei.
Als der Wächter diese Worte hörte, wurde er bleich und blickte voller Angst um sich. Ich war starr vor Verwunderung. Wo hatte GroÃmutter das her? Das Gedicht klang nach Lermontow â wunderschön wie ein Schimmel mit schwarzer Mähne. AuÃerdem hatte sie es in einem literarischen Russisch rezitiert, was ebenfalls rätselhaft war, denn GroÃmutter Anastasia kannte die hiesige Sprache nur schlecht.
»Schau, mein Kleiner, wie blass er geworden ist«, stellte sie fest und zeigte auf den Wächter. »Das heiÃt, er ist noch ein Mensch, er ist noch nicht völlig verfault. Morgen wird sein Herz so weià sein wie ein Lämmchen.«
»Schweig!«, schrie der Soldat mit einer merkwürdigen Stimme, und er wurde noch bleicher, so als sei er über sein eigenes Geschrei erschrocken.
In diesem Moment erschien Schönheit im Wartesaal. Im gleichen Augenblick tauchte auf der anderen Seite Durow hinter einer Panzertür auf.
»Wie gut, dass ich hier der Bevollmächtigte bin«, sagte er freundlich zu Mutter, während er sich über seine bläulichen Bartstoppeln rieb. »Ein junger Schreiberling würde so eine Gelegenheit, sich zu beweisen, sofort ergreifen. Wenn ich nicht wäreâ¦Â«, betonte er noch einmal lächelnd, wobei seine dunklen, leicht schräg stehenden Augen warm aufleuchteten, »dann müsste deine Mutter schon übermorgen den Lagerfraà löffeln. SchlieÃlich hätte sie es zweifach verdient. Ich habe sie bereits vor dem Urteil âºgesellschaftlich gefährliches Elementâ¹ bewahrt, und heute auch noch vor der âºantisowjetischen Agitationâ¹ und dem âºVerdacht auf Spionageâ¹. Ich kenne das Leben, aber auch du solltest seinen Geschmack kennen lernen.«
»Danke, Semjon Semjonowitsch«, sagte Mutter demütig und begann, uns diskret aus dem Inquisitionsgebäude zu schubsen.
»Und auch dich werde ich noch weià machen!«, rief GroÃmutter, schon an der Tür, Durow zu. »Du wirst weià sein wie ein Müller, du wirst weiÃer sein als der tote Nikolaus II. oder das Silberkleid seiner Frau!«
Während des ganzen Weges und auch später zu Hause sprach GroÃmutter ständig von ihrer auÃergewöhnlichen Mission. Die geröteten Wangen lieÃen ihr Gesicht jünger erscheinen, und in ihren Zügen lag eine sonderbare, wilde Schönheit. In ihren romantisch blauen Augen waren aber immer deutlicher die weiÃen Signale des Wahnsinns zu erkennen. Schönheit sagte mir, dass GroÃmutter an Schizophrenie leide, einer schlimmen psychischen Krankheit. Diese Diagnose machte mir jedoch keine Angst, im Gegenteil, mein Herz öffnete sich GroÃmutter gegenüber nur noch mehr, und ich hörte ihren Tiraden andächtig zu. Sie war anders, so viel war sicher. Und wahrscheinlich stachelte diese Andersartigkeit meine enorme Neugierde an. SchlieÃlich sah sie Dinge, die ich nicht sehen konnte, und durchstreifte unbekannte Dimensionen. In ihrem neuen Zustand erinnerte sie ein wenig an Pachomjusch und auch an den Protopopen Awwakum mit seinen Prophezeiungen.
GroÃmutters Krankheit bedeutete zugleich eine gröÃere Armut für uns. Zwei kärgliche Lebensmittelrationen mussten jetzt drei Personen am Leben erhalten. Schönheit sorgte sich vor allem um mich und setzte alle Hebel in Bewegung, damit GroÃmutter wieder ihre eigene Ration zuerkannt wurde. Da ich an Elend und
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