Biografie by Maxim Biller

Biografie by Maxim Biller

Autor:Maxim Biller
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch Verlag
veröffentlicht: 2016-03-31T04:00:00+00:00


2

Agentenmärchen

»Als Mojsche der Grebser sechs Jahre alt war«, begann Mamaschas Agentenmärchen,das sie mir nach Prag gemailt hatte und das ich erst später in Tel Aviv las, »spielte er am liebsten mit Geld. Andere Kinder spielten mit Puppen, Bällen, mit Katzen und Goldfischen, er interessierte sich aber nur für Münzen und Banknoten. Die meisten Erwachsenen mochten Mojsche nicht. Er war genauso ernst wie sie, seine Wangen waren fast so dunkel wie die Wangen eines Mannes, der sich zwei, drei Tage lang nicht rasiert hatte, und er hatte immer auf alles eine Antwort.

›Mojschele, kommst du mit zur großen Geburtstagsparade des Königs?‹

›Nein, ich mag den König nicht.‹

›Sag das nicht so laut, Mojschele, wir auch nicht, aber wir werden trotzdem hingehen und für ihn Happy Birthdaysingen.‹

›Ich bin eben nicht so ein Feigling wie ihr, die Erwachsenen!‹

›Mojschele, warum rülpst du immer so viel?‹

›Weil ihr mich Mojsche den Grebser nennt.‹

›So nennen wir dich, weil du immer so viel rülpst.‹

›Vielleicht hör ich ja auf damit, wenn ihr damit aufhört. Vielleicht aber auch nicht.‹

›Mojschele, was möchtest du später werden – ein Dichter, ein Seemann oder ein Zuhälter?‹

›Ist mir egal, Hauptsache, ich werde reicher als mein Vater!‹

Das Land, in dem Mojschele und die Erwachsenen lebten, hieß Rotland. Es war ein sehr armes Land. Nur der König und die Referenten des Königs waren reich, denn nur sie durften Handel treiben und stehlen, und wenn sie jemanden dabei erwischten, dass er Dinge kaufte und teurer weiterverkaufte, steckten sie ihn ins Gefängnis. Dort brachten die Referenten den Häftling schnell dazu, ihnen zu verraten, wo sein ganzes Geld war, und wenn er dann dachte, es würde alles wieder gut werden, hängten sie ihn nackt vor dem Roten Schloss in einem Käfig auf, dessen Gitterstäbe so weit auseinander waren, dass Raben hineinfliegen und aus den Schenkeln und Backen des langsam Verhungernden und Verdurstenden kleine Fleischstückchen rauspicken konnten.

Der Vater von Mojsche dem Grebser gehörte zu den wenigen in Rotland, die sich trauten, heimlich Geschäfte zu machen. Er wollte nicht, dass seine Familie hungerte und im Winter in der großen Wohnung am Referentenplatz fror, und er wollte ab und zu seiner Frau Chawa der Dunklen einen Blumenstrauß oder ein durchsichtiges Höschen aus schwarzer Spitze kaufen. Doch Arik der Löwe liebte das Geld nicht nur, weil man dafür etwas bekam. Der Gedanke, dass man aus ein paar Rubeln – so hieß auch schon damals die Währung von Rotland – Hunderttausende von Rubeln machen konnte, versetzte ihn in große Aufregung. Ein ähnliches tiefes, vibrierendes Gefühl hatte früher immer seinen Großvater überwältigt, seinen Urgroßvater und seinen Ururgroßvater, wenn sie beim Lernen bemerkten, dass sie aus einem einzigen Satz, den sie in einem heiligen Buch lasen, selbst ein Buch machen konnten, indem sie noch mehr Sätze darüber schrieben. Gott musste sich genauso gefühlt haben, als er aus dem Nichts die Welt erschuf, dachten sie. Und Arik der Löwe dachte dasselbe, wenn er wieder einmal einen dicken Umschlag mit Rubeln nach Hause trug und unter der Türschwelle zwischen Küche und Kammer versteckte.

Ja, Mojsche der Grebser war der Ast an einem jahrhundertealten Stamm.



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