Bergsteigen im Flachland - Roman by Urs Mannhart

Bergsteigen im Flachland - Roman by Urs Mannhart

Autor:Urs Mannhart
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Secession Verlag
veröffentlicht: 2014-01-15T00:00:00+00:00


36. KAPITEL

HUELVA, SPANIEN

Eine Tasche mit Brot, Wurst und einer vollen Flasche Wasser in der Hand, stand Mihai Tinescu an einer staubigen Straße und wartete auf einen weißen Toyota-Kleinbus, der ihn allmorgendlich »in den Plastik« brachte, wie man hier sagte. Hier, das war Huelva, das Zentrum der südspanischen Erdbeerproduktion, mehr als dreieinhalbtausend Kilometer von Tinescus Heimat entfernt. Die Sonne stand noch tief am Horizont, heizte die Ebene aber bereits auf und überzog die schmutzig weißen Plastikplanen, mit denen die gesamten fünfunddreißigtausend Hektar zwischen El Ejido und Almería im südspanischen Andalusien bedeckt waren, mit zartem Glanz.

Neben Tinescu saßen dann drei Frauen aus Tiraspol in Transnistrien im Bus, vielleicht fünfunddreißigjährig, mit denen er sich, wenn nicht auf Rumänisch, so doch bestimmt auf Russisch hätte unterhalten können, etwa über Schmerzen im Rücken, über entzündete Stellen an Fingern und Handgelenken, über den üblen Geruch der Pestizide, der einem auch nachts in die Nase stieg, aber diese Frauen waren schon eine Weile hier beschäftigt und bildeten einen geschlossenen Kreis, in den einzutreten Tinescu unhöflich erschien, weswegen er stumm aus dem staubigen Busfenster über das ihn jeden Tag von Neuem irritierende Plastikmeer blickte, das errichtet worden war, um mit möglichst geringem Aufwand Europas Supermärkte mit Gemüse und Früchten zu versorgen.

Tinescu hoffte, auf eine möglichst weit entfernt liegende Plantage gefahren zu werden. Weil das Fahren im Bus den einzig angenehmen Teil dieser Arbeit darstellte und der Fahrer ein wortkarger Algerier war, der frühmorgens schon seine Reggae-Kassette in die Wiederholung schickte. Tinescu hatte immer gedacht, er würde Reggae geringschätzen, hier aber boten ihm die langsam einherschreitenden Rhythmen eine Geborgenheit, die sonst nicht zu haben war.

Diese Musik erinnerte ihn auch an seine längst verflossene Zeit an der Universität in Tîrgu Mureș, wo er eine Zeit lang mit einem Studenten befreundet gewesen war, dessen große Sehnsucht Jamaica und der dortigen Musik gegolten hatte, der aber mit fortschreitendem Studium wider Erwarten von einem akademischen Ehrgeiz erfasst worden war, dessen opportunistische Ausprägung Tinescu anekelte. Er hatte sich nie wohlgefühlt in einem System, das auch den miserabelsten Studenten ermöglichte, ein Diplom zu ergattern, solange sie und ihre Familien das Geld dafür aufzuwenden vermochten, in einem System, in dem die Wahrheit dem Professor gehörte, der diese in einem im Selbstverlag herausgegebenen Sachbuch festgehalten hatte und die Studierenden Semester um Semester neu dazu verdonnern konnte, ebendieses Buch zu kaufen. Der Jamaica-Sehnsüchtige hatte sich seinen Abschluss nicht erkauft, hatte sich aber so gut in diese Bildungsmafia eingelebt, dass er heute bestimmt einen guten Lohn bezog, während Tinescu nach seinem Abschluss wie zahlreiche andere feierlich und mit dem vom Konterfei Ceaușescus gezierten Diplom in die Arbeitslosigkeit entlassen worden war, die er länger als ein Jahr hatte ertragen müssen.

Am Fuß der entfernten Hügel zog Lastwagen um Lastwagen nordwärts, Mihai Tinescu schätzte den zeitlichen Abstand zwischen ihnen auf eine knappe Minute. Würden sie rund um die Uhr fahren, so ergäben sich bei einem Durchschnitt von einem Lastwagen pro Minute eintausendvierhundertvierzig Lastwagen täglich. Allerdings herrschte zwischen Mitternacht und circa fünf Uhr Ruhe auf den großen Straßen; mit neunzehn Stunden ergab die Rechnung dreihundert Lastwagen weniger.



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