Beichte in der Nacht und andere Geschichten von der Liebe by Friedrich Glauser

Beichte in der Nacht und andere Geschichten von der Liebe by Friedrich Glauser

Autor:Friedrich Glauser [Glauser, Friedrich]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783857919350
Herausgeber: Limmat Verlag
veröffentlicht: 2015-09-18T16:00:00+00:00


Fräulein Doktor

Sie hieß Ida Guhl und stammte aus einer wohlhabenden Thurgauer Familie. In der Anstalt hieß sie nur «Fräulein Doktor», und sie hatte die Visite auf den beiden schweren Abteilungen zu machen, auf den unruhigen, und zwar morgens und abends. Außerdem hatte sie Büroarbeit zu verrichten, Krankengeschichten nachzuschreiben. Sie war etwa dreißig Jahre alt, hatte ein stilles, weißes Gesicht, das sich durch ein übermäßig langes und flaches Kinn auszeichnete, dazu braune Augen, die sich ein wenig vorwölbten und im Ausdruck sehr ruhig waren; wenn sie lächelte, kamen unter der Oberlippe breite Schneidezähne zum Vorschein.

Sie hatte eine energisch-mütterliche Art, die ihr in ihrem Berufe sehr zustatten kam. Sie ging zu aufgeregten Kranken allein in die Zelle, fürchtete sich nicht vor drohenden Fäusten und Beschimpfungen, sondern stand vor den Tobenden mit gefalteten Händen, wartete auf eine Pause im Lärm und fiel dann sofort mit ihrer ein wenig heiseren Altstimme ein, die eine sonderbar beruhigende Wirkung ausübte. Widerspenstige Kranke vermochte sie mit ihr abzulenken, sie durch einfache Worte wie: «Wir wollen es einmal zusammen versuchen», oder: «Komm einmal mit, mein Sohn», zu einer Beschäftigung zu veranlassen; auf diese Wirkungen ihrer Persönlichkeit war sie durchaus nicht stolz, sie fand sie selbstverständlich und wunderte sich, wenn sie gelobt wurde vom Direktor oder vom zweiten Arzt. «Das könnte doch jeder Pfleger tun», meinte sie bei einer solchen Gelegenheit, «das hat doch mit Psychiatrie nichts zu tun.»

Dann verlor Ida Guhl ihren Vater und fühlte sich doppelt einsam. Sie hatte doch so wenig erlebt: Einige oberflächliche Kameradschaften während ihrer Studienzeit, eine unglückliche Liebe zu einem schon verheirateten Chirurgen waren alles, was sie mit den andern Menschen in Berührung gebracht hatte.

Nun traf sie eines Nachts am Bette eines Kranken, dessen Herz nicht recht funktionieren wollte, einen jungen Pfleger, der sie mit kurzen und, wie ihr schien, recht klug und sachlich ausgewählten Worten über den Zustand des Kranken aufklärte. Die Untersuchung dauerte nicht lange, das «Fräulein Doktor» machte dem Kranken eine Einspritzung. Als sie ihre Hilfe beendigt hatte, stellte sich der junge Pfleger als Paul Hasler vor. Sie sah ihm ins Gesicht: Die Stirne schien hoch, ein wenig nach hinten fliehend, über ihr standen borstig-braune Haare empor, die zwei sehr weiße Einbuchtungen frei ließen. Als sie den Mann im Profil sah, fiel ihr der abgeplattete Hinterkopf auf. Irgendwie rührte sie diese Beobachtung, denn sie gab dem Mann etwas Kindlich-Hilfloses, das gar nicht zu dem kräftigen, muskulösen Körper passen wollte. Sie schätzte den Mann auf etwa fünfundzwanzig Jahre. Als sie ihm zum Abschied die Hand reichte, sah er sie mit einem Gemisch von Untertänigkeit und einer leise lächelnden Frechheit an (es schien, als wolle er sagen: «Nun, habe ich dir gefallen?»). Das «Fräulein Doktor» wurde rot. Sie lächelte unwillkürlich zurück, der Mann hielt ihre Hand fest, endlich sagte sie energisch: «Gute Nacht!» und riss sich los aus der Umklammerung seiner Hand.

Dann kam ein Anstaltsfest, an dem sie oft mit dem Pfleger Hasler tanzte. Hernach kamen sonnige und heiße Herbsttage, die Wiesen um die Anstalt stachen tief grün gegen die farbigen Laubwälder auf den Hügeln ab.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.