Bagdad by Najem Wali
Autor:Najem Wali [Wali, Najem]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783446250154
Herausgeber: Carl Hanser Verlag München 2015
veröffentlicht: 2015-08-24T16:00:00+00:00
20
Das eigene Zimmer
Ich war noch nicht lange in Bagdad, als ich das Leben entdeckte, das ich als Schriftsteller beginnen wollte. Ich sage entdeckte, nicht erfand, weil mir die Ordnung, die ich mir zu geben gedachte, allem Anschein nach nicht fremd war. Offenbar hatte ich sie schon früher kennengelernt: Um Schriftsteller zu werden, braucht man Beharrlichkeit. Begabung steht zwar am Anfang, aber diese entwickelt sich nur durch harte Arbeit. Die meisten irakischen Schriftsteller, die ich damals kannte oder kennenlernen sollte, besonders diejenigen aus meiner Generation, veröffentlichten ein Werk, und das war’s dann. Doch da ich nicht von verflossenem Ruhm zehren wollte, musste ich anders vorgehen. Ich musste ein Schriftsteller werden, von dem die Leser immer ein neues Werk erwarten – eben nicht einfach ein Schriftsteller, sondern einer, der einen literarischen Plan verfolgte.
Ein Zimmer in der Gegend von Haidarchâna zu finden, war der erste Schritt in diese Richtung. Zugegeben, ich musste dieses Zimmer mit zwei anderen Studenten teilen, Châlid und Alâ, zwei Burschen, die auch aus Amâra stammten und Verwaltungswissenschaften studierten. Doch das Zimmer war geräumig, und die beiden reisten bald mit einem Stipendium der irakischen Kommunistischen Partei in die mazedonische Hauptstadt Skopje im ehemaligen Jugoslawien. Und so wuchs in mir das Gefühl, auf ein neues Leben zuzugehen. Bis dahin hatte ich nie einen eigenen Raum gehabt, ein Zimmer für mich selbst. Virginia Woolf spricht vom »Zimmer für sich allein« und die entscheidende Rolle, die es im Leben einer Schriftstellerin spielt. Zu ihrer Zeit, unter skandalösen, männerbestimmten Verhältnissen, war es für eine Frau fast ausgeschlossen, über ein eigenes Zimmer zu verfügen. Auf dieser Grundlage machte sie das eigene Zimmer ganz besonders für die Schriftstellerin zur Voraussetzung. Ohne eine eigene Atmosphäre und zumindest die Freiheit, sich darin zu bewegen, sei es für sie schwierig zu schreiben. Jemand wie ich, aufgewachsen in einer patriarchalischen Gesellschaft, kann das nur zu gut verstehen.
Vielleicht kommt das Europäern lächerlich vor. Ihre Kinder bekommen, kaum ein wenig herangewachsen, schon ein eigenes Zimmer. Das Kind in Europa, und speziell in Deutschland, lebt mit seinen persönlichen Dingen, die es umgeben. Das erste Pronomen, das ein Kind lernt, ist das Possessivpronomen in der ersten Person Singular: mein. Wir im Orient dagegen brauchen Jahre, bis wir mit Überzeugung dieses Pronomen aussprechen – ohne innere Zensur und ohne Scham gegenüber der Umgebung. Zu Hause hatte ich nie ein eigenes Zimmer. Meine drei Schwestern schliefen im selben Zimmer, das sich auch noch unsere Großeltern mit uns teilten. Vielleicht waren sogar wir es, die als Gäste dort logierten. In Bagdad konnte ich zum ersten Mal sagen, ich hätte ein eigenes Zimmer. Im Haus meines Großvaters in Basra zum Beispiel hatte ich, obwohl ich es durchsetzen konnte, im anderen, dem leeren Zimmer wohnen zu dürfen, nie dieses Gefühl, das ich dann in Bagdad bekam. Nicht weil ich mir das Zimmer mit meinem Onkel teilte, sondern weil ich nicht das Gefühl hatte, an einem Ort zu wohnen, der meiner ist: für den ich die Miete bezahle, den ich aufräume, den ich möbliere, wie ich will, in dem ich nach Belieben und Bedarf aus und ein gehen kann.
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