BLINDE RACHE by John Saul

BLINDE RACHE by John Saul

Autor:John Saul [Saul, John]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-09-28T16:00:00+00:00


Als Michelle auf der Höhe des Friedhofs angelangt war, wurde die Sonne zu einer bleichen Scheibe. Nebel stieg auf. Michelle hatte sich daran gewöhnt, daß es hier oft neblig war, sie war nicht überrascht, als die feuchten Schwaden auf sie zuschwebten. Wenig später war sie von der Welt abgeschlossen. Sie war allein, aber sie wußte, daß sie nicht lange allein bleiben würde. Mit dem Nebel kam Amanda. Michelle freute sich über das Weiß, das an ihr hochkroch, und sie freute sich auf ihre Freundin. Und da war sie auch schon. Sie kam vom Friedhof. Sie lächelte. Sie winkte Michelle zu.

»Hi«, rief Michelle.

»Ich habe dich erwartet«, sagte Amanda und stieg über den zusammengebrochenen Zaun hinweg. »Ist es gekommen, wie ich gesagt habe? Haben sie sich so benommen, wie ich es dir prophezeit habe?«

»Ja.« Sie mußten beide lachen. Sie sprachen im Flüsterton miteinander.

»Also gut«, sagte Amanda schließlich. »Ich werde dich begleiten, und du wirst mir sagen, wie die Dinge aussehen.«

»Kannst du denn nicht sehen?«

Amandas milchweiße Pupillen fixierten die Freundin. »Ich kann nichts sehen«, sagte sie. »Außer du bist bei mir...« Michelle ergriff Amanda an der Hand. Sie gingen den Pfad, der zum Friedhof führte. Aus irgendeinem Grunde fiel Michelle das Gehen jetzt leichter als vorher, wo sie allein gewesen war. Ihre Hüfte tat nicht mehr so weh. Es ging so leicht, daß sie kaum noch hinkte.

Amanda führte ihre Freundin quer über den Friedhof, und dann gingen sie den Weg auf dem Kliff entlang. Wenig später kam Michelles Haus in Sicht. Sie wollte auf das Hauptgebäude zugehen, als Amanda an ihrer Hand zupfte.

»Nicht zum Haus«, sagte Amanda. Ihre Hand schloß sich um Michelles Finger. »Zum Gartenhäuschen. Was ich sehen will, ist im Gartenhäuschen.« Michelle zögerte, aber dann gewann die Neugier die Oberhand. Sie ließ sich von Amanda zu dem Studio führen, das ihre Mutter im Gartenhäuschen eingerichtet hatte.

An der Ecke des Häuschens angekommen, blieb Amanda stehen.

»Schau durchs Fenster«, flüsterte sie Michelle zu.

Michelle gehorchte. Sie ging zum Fenster und spähte hinein.

Der Nebel, der dick und grau im Garten wallte, schien auch in das Studio gefunden zu haben. Die Umrisse der Gegenstände blieben unklar.

Alles sah verändert aus. Falsch.

Die Staffelei ihrer Mutter stand an der üblichen Stelle, aber das Bild war nicht von ihrer Mutter gemalt, da war Michelle ganz sicher.

Michelle stand auf Zehenspitzen und starrte das Gemälde an, als sie einen Schatten bemerkte. Ihr Blick glitt zur Seite, in die nebelverhangene Düsternis hinein. Da waren Menschen im Malstudio. Michelle konnte die Gestalten nicht klar erkennen, weil die Schwaden ihre Sicht behinderten. Die Köpfe blieben im Dunkel.

Dann war eine Stimme zu hören.

Es war Amandas Stimme.

»Es ist wahr«, zischte Amanda ihr ins Ohr. »Sie ist eine Hure. Eine Hure!«

Michelles Augen weiteten sich, so erschrocken war sie über den Haß, der in der Stimme ihrer Freundin mitschwang. Sie versuchte ihre Hand aus Amandas Klammergriff zu befreien, aber das erwies sich als unmöglich.

»Nicht«, sagte Amanda. »Du darfst nicht weggehen! Ich muß es sehen!«

Ihre Züge waren wutverzerrt. Ihre Hand, die Michelles Finger umklammert hielt, war zu einer schmerzhaften Zange geworden.

Mit einer jähen Bewegung kam Michelle frei.



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