Auf Seelenspitzen by Didier van Cauwelaert

Auf Seelenspitzen by Didier van Cauwelaert

Autor:Didier van Cauwelaert [Cauwelaert, Didier van]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105602201
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-06-19T16:00:00+00:00


Ich entziehe mich unserem ersten Essen en famille, um in die Gegenwart zurückzukehren und mal nachzusehen, was so aus mir wird. Und da passiert etwas Merkwürdiges: Ich war durch das Foto, mit dem sich die beiden Leichenfledderer über meinem Sarg amüsierten, in die Nacht der Miss-Wahl eingetaucht – durch das Gegenstück in Papas Küche tauche ich wieder auf.

Er hat alle Bilder von mir auf dem großen Holztisch ausgebreitet, alle meine Kinder- und Jugendgesichter; die Pfadfinderlager, die Reitturniere, den Militärdienst, die Hochzeit, Luciens Geburt … Ich habe die Wahl. Es kann einem richtig zu Kopfe steigen, von einem Moment zum anderen springen zu können, das Haus wieder zu sehen, das es nicht mehr gibt, das Lächeln meiner Großmutter, die von den schrulligen Einfällen meines Großvaters ausgelösten häuslichen Katastrophen, die Blicke geheimen Einverständnisses zwischen Brigitte und mir, Papas Stolz, mit dem er mein Pferd am Zügel hält, nachdem ich das Kleine Reitabzeichen bestanden habe …

Und er, wie geht es ihm nach dieser Nacht im Ford in der Garage? Er hat sich rasiert, das sorgfältig gekämmte Haar ist frisch geschnitten. Er trägt einen Anzug aus grauem Croisé mit feinen hellroten Streifen, ein Oxford-Hemd und eine Club-Krawatte. So habe ich ihn nicht mehr gesehen, seit er sich zur Ruhe setzte. Seit ich nach seinem Willen an seine Stelle treten sollte, schien er geradezu Wert darauf zu legen, sich gehen zu lassen, dicker zu werden, zu verschlampen, damit Fabienne nicht Gefahr liefe, die Liebe in seinen Augen zu entdecken. Wie unglücklich er doch war, als er mir einen Gefallen zu tun glaubte, indem er mir diese Frau überließ, in der ehrlichen Überzeugung, dass er sie nur für mich begehrte …

Heute Morgen sieht er zehn Jahre jünger aus. Ich freue mich über seine Gefühle. Meine Kassette mit den aufgenommenen Mitteilungen scheint alle seine Bedenken mir gegenüber zerstreut zu haben, sogar die Eifersucht, die er sich verbot. Wir sind endlich versöhnt, ohne uns je zerstritten zu haben – wir haben alles dem Schweigen überlassen.

Er nimmt das Foto mit der Widmung vom Tisch. «Für Louis Lormeau. Zur Erinnerung an eine kalte Dusche.» Er lächelt dem paillettenbeschuppten Körper zu und steckt das Bild in seine Innentasche, mit derselben Geste, mit der Fabienne es mir für meine letzte Reise zugesteckt hatte.



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